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JOHANNA SPYRI

Das bunte Heidi-Buch

W. FISCHER-VERLAG GÖTTINGEN

Heidis Lehr- und Wanderjahre Inhalts Verz.
Zum Alm-Öhi hinauf 7
Beim Großvater 15
Bei der Großmutter 24
Zwei Besuche und ihre Folgen 32
Lauter neue Dinge 38
Ein unruhiger Tag 43
Es geht lebhaft zu 51
Eine Großmama kommt 58
Im. Hause Sesemann spukt's 64
Am Sommerabend die Alm hinan 73
Am Sonntag, wenn's läutet 81


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JOHANNA SPYRI

Das bunte Heidi-Buch

W. FISCHER-VERLAG GÖTTINGEN


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Titelbild und Illustrationen: ERICA HEMPEL

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Fischer-Offset-Druck, Göttingen



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Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlich gelegenen Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuß der Höhen. Auf diesem schmalen Bergpfad stieg an einem sonnigen Junimorgen ein großes, kräftiges Mädchen hinan. Es führte ein Kind an der Hand, das trotz der heißen Junisonne so verpackt war, als hätte es sich gegen bitteren Frost zu schützen. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; seine natürliche Gestalt aber konnte man nicht erkennen, denn es hatte zwei, wenn nicht gar drei Kleider übereinandergezogen und darüber ein großes buntes Baumwolltuch um und um gebunden.

Eine Stunde mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und "im Dörfli" heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Haus aus angerufen, denn das Mädchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends halt, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten Häuschen angekommen war. Hier rief eine Stimme aus einer Tür: "Warte einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst."

"Bist du müde, Heidi?"fragte die Begleiterin die Kleine.

"Nein, es ist mir nur heiß", entgegnete das Kind.

"Wir sind gleich oben", ermunterte die Gefährtin das Mädchen.

Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch geraten waren.

"Wohin willst du eigentlich mit dem Kind, Dete?"fragte die Frau. "Es ist wohl das hinterlassene Kind deiner Schwester?"



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"Das ist es", erwiderte Dete. "Ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muß dort bleiben."

"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schön heimschicken mit deinem Vorhaben!"

"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muß etwas tun. Ich habe das Kind bis jetzt gehabt und lasse eine Stellung, wie ich sie jetzt haben kann, nicht um des Kindes willen schwinden."

"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die breite Barbel eifrig. "Aber du kennst ihn ja. Wo willst du denn hin?"

"Nach Frankfurt", erklärte Dete. "Da bekomm' ich einen besonders guten Dienst. Die Familie war schon im vorigen Sommer unten in Bad Ragaz, und jetzt ist sie wieder da und will mich mitnehmen."

"Ich möchte das Kind nicht sein!" rief Barbel mit abwehrender Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit niemand will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuß in die Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock einmal im Jahr herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muß sich vor ihm fürchten."

"Und wenn auch!" sagte Dete trotzig. "Er ist der Großvater und muß für das Kind sorgen. Er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu verantworten, nicht ich."

Die Barbel hätte schon lange gern mehr über den Alm-Öhi gewußt. Sie hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet. Die Dete dagegen, ihre gute Bekannte, war aus dem Dörfli gebürtig und hatte dort mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr gelebt. Da war diese gestorben, und Dete war nach Bad Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kind von Ragaz hergekommen.

Barbel faßte Dete vertraulich am Arm und sagte: "Von dir kann man doch erfahren, was wahr ist, du weißt sicher die ganze Geschichte."



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"Ob er immer so war, kann ich auch nicht wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig, und er ist sicher siebzig Jahre alt."

Dete sah sich um, ob das Kind nicht zu nahe sei und alles anhöre, was sie sagen wollte. Doch das Kind war gar nicht zu sehen, es mußte ihnen schon seit einiger Zeit nicht mehr gefolgt sein. Dete schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen.

"Jetzt seh' ich's", erklärte Barbel und wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert mit dem Geißenpeter und seinen Geißen die Abhänge hinauf. Warum der heut so spät hinaufgeht mit seinen Tieren? Es ist aber gerade recht, er kann nun nach dem Kind sehen, und du kannst mir um so besser erzählen."

"Da braucht sich der Peter nicht anzustrengen", sagte Dete. "Das Heidi ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es macht seine Augen auf und sieht, was vorgeht. Das wird ihm einmal zugute kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."

"Hat er denn einmal mehr gehabt?"fragte Barbel.

"Der? Ja, das denk' ich", entgegnete Dete eifrig. "Eines der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er gehabt. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und als er außer einem bösen Namen nichts mehr hatte, ist er verschwunden. Dann hörte man wohl fünfzehn Jahre nichts mehr von ihm.

Auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halberwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterbringen. Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da mit dem Buben. Seine Frau muß eine Bündnerin gewesen sein, die er bald wieder verloren hatte. Er muß noch etwas Geld gehabt haben, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute keiner. Wir



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anerkannten aber die Verwandtschaft und nannten ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese auch alle Öhi. Als er dann auf die Alm zog, hieß er nur noch der ,Alm-Öhi'."

"Aber wie ist es denn dem Tobias ergangen?" fragte Barbel.

"Warte nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen", erklärte Dete. "Der Tobias nahm meine Schwester Adelheid zur Frau, aber das Glück währte nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, als Tobias an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und erschlug ihn. Und als man den Mann nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schreck und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen. Nur ein paar Wochen später begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi für sein gottloses Leben verdient habe. Er wurde immer grimmiger und verstockter und redete mit niemand mehr; es ging ihm auch jeder aus dem Weg.

Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und den Menschen in Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Als nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit."

"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es wundert mich nur, was du denkst, Dete."

"Ich habe das Meine an dem Kind getan und denke, ich kann ein Kind, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel?"

"Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß", entgegnete Barbel. "Ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt im Winter für mich. So leb wohl, Dete; viel Glück!"

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese der kleinen Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts in einer Mulde stand. Hier wohnte der Geißenpeter, der



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elfjährige Junge, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben.

Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen sehr früh fortmußte und am Abend vom Dörfli spät heimkam, verbrachte er daheim nur gerade soviel Zeit, um am Morgen und Abend seine Milch und sein Brot hinunterzuschlucken und zu schlafen.

Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten nach den Kindern mit den Geißen umgesehen. Inzwischen rückten sie auf einem großen Umweg heran, denn Peter wußte viele Stellen, wo es allerhand Gutes für seine Geißen gab. Erst war ihnen das Kind in seiner schweren Kleidung mühsam nachgeklettert. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf Peter, der mit nackten Füßen und im leichten Höschen ohne alle Mühe hin und her sprang, bald auf die Geißen, die noch leichter über Busch und Stein und steile Hänge kletterten.

Auf einmal setzte sich das Kind auf den Boden, zog Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, tat sein dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuziehen; denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleid über das Alltagszeug angezogen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltags röckchen weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen da, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdsärmeln vergnügt in die Luft streckend. Dann legte es alles schön auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben Peter her.

Peter hatte nicht achtgegeben, was das Kind machte, als es zurückgeblieben war. Als es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, schaute er lustig grinsend auf das Häuflein Kleider zurück, sagte aber nichts. Das Kind fing ein Gespräch mit Peter an, und er mußte auf vielerlei Fragen antworten. So langten die Kinder samt den Geißen endlich oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht, die laut aufschrie:

"Heidi, wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Neue Schuhe habe ich dir gekauft



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und dir neue Strümpfe gemacht, und alles ist fort! Heidi, wo hast du alles?" Das Kind zeigte den Berg hinunter und sagte: "Dort!"

"Ach du unvernünftiges Heidi", schalt die Base weiter. "Wer soll nun da wieder hinunter, es dauert ja eine halbe Stunde! Peter, lauf du schnell zurück und hol das Zeug! Komm schnell und steh nicht dort, als wärst du am Boden festgenagelt."

"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Fleck stehen.

"Komm her, du sollst was Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm einen glänzenden neuen Fünfer hin. Plötzlich sprang er davon und auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, daß ihn die Base loben mußte und ihm sogleich sein Fünfer! überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht strahlte, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

"Du kannst mir das Zeug noch bis zum Öhi hinauftragen, du gehst ja auch den Weg", sagte Base Dete jetzt. Willig übernahm er den Auftrag, und Heidi und die Geißen hüpften fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab.

An der Talseite der Hütte hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, die Pfeife im Mund, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Base Dete herankletterten. Heidi war zuerst oben; es ging geradewegs auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Guten Tag, Großvater!"

"So, so, wie ist das gemeint?" fragte der Alte barsch, gab dem Kind kurz die Hand und schaute es unter seinen buschigen Augenbrauen mit einem langen Blick an. Heidi gab den Blick zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart war so wunderlich anzusehen,



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daß Heidi ihn recht betrachten mußte. Unterdessen war auch die Base mit Peter herangekommen.

"Ich wünsche dir guten Tag, Öhi", sagte Dete. "Hier bringe ich das Kind von Tobias und der Adelheid. Du wirst es wohl nicht mehr kennen, denn seit es ein Jahr alt war, hast du es nie mehr gesehen."

"So, und was soll das Kind bei mir?" fragte der Alte kurz. "Und du dort", rief er Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist recht spät. Nimm meine mit!"

Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn angeschaut, daß er davon schon genug hatte.

"Es muß bei dir bleiben, Öhi", gab Dete auf seine Frage zurück. "Ich habe, denk' ich, das Meine an ihm getan die vier Jahre durch. Es wird jetzt wohl an dir sein, auch einmal das Deine zu tun."

"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf Dete. "Und wenn das Kind dir nachflennt, was soll ich dann mit ihm anfangen?"

"Das ist deine Sache. Ich muß jetzt meinem Verdienst nach, und du bist der nächste am Kind. Wenn du's nicht haben kannst, so mach mit ihm, was du willst; du hast es dann zu verantworten, wenn's verdirbt, und du wirst es wohl nicht nötig haben, dir noch etwas aufzuladen."

Dete hatte kein ganz gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, daß sie einige Schritte zurückwich. Dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, daß du hinunterkommst und zeig dich so bald nicht wieder!"

Das ließ sich Dete nicht zweimal sagen. "So leb wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief in einem Trab den Berg hinunter bis ins Dörfli.



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Beim Großvater

Nachdem Dete verschwunden war, hatte sich der Öhi wieder auf die Bank gesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife. Inzwischen schaute Heidi vergnügt um sich, entdeckte den Geißenstall und guckte hinein. Es kam hinter die Hütte zu den alten Tannen, ging um die andere Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater stand auf und ging in die Hütte.

Heidi trat hinter ihm in einen ziemlich großen Raum ein. Da stand ein Tisch mit einem Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd. In einer Wand war eine große Tür, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Darin hingen seine Kleider, und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher, auf einem anderen einige Teller, Tassen und Gläser, auf dem obersten ein rundes Brot, geräuchertes Fleisch und Käse. In dem Schrank war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem Lebensunterhalt brauchte.

Heidi sah sich in dem Raum aufmerksam um und fragte: "Wo soll ich schlafen, Großvater?"

"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.

Das war Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und schaute sich jedes Plätzchen an. In der Ecke stand eine kleine Leiter; Heidi kletterte hinauf und kam auf den Heuboden. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.

"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!"



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"So, so", sagte unten der Großvater, ging an den Schrank und zog unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden schon ein Bettlein zugerichtet, oben, wo der Kopf liegen mußte, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu liegen, daß es gerade auf das offene runde Loch zeigte.

"Das ist recht gemacht", lobte der Großvater. "Jetzt kommt auch das Tuch." Heidi hatte das Leintuch schnell an sich genommen, konnte es aber fast nicht tragen, so schwer war es; doch das war gut so, denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen.

Heidi stand staunend vor seinem Lager und sagte: "Jetzt wollt' ich, es wäre schon Nacht und ich könnte mich hineinlegen."

"Ich denke, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der Großvater. Heidi hatte über dem Bett alles andere vergessen; als es aber ans Essen dachte, verspürte es großen Hunger. "Ja, ich meine es auch", stimmte Heidi zu.

"Sô geh hinunter", sagte der Alte und folgte dem Kind nach. Er setzte sich auf den hölzernen Dreifuß vor dem Herd und blies ein helles Feuer an. Dann hielt er an einer langen Eisengabel ein großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Als der Großvater mit einem Topf und dem Käse zum Tisch herankam, lagen schon das runde Brot, zwei Teller und zwei Messer darauf.

Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und stellte ein Schüsselchen und ein Glas auf den Tisch.

"Recht so, du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi brachte den kleinen Dreifuß und setzte sich drauf. Der Großvater legte ihm ein großes Stück Brot vor und ein Stück von dem goldenen Käse dazu und sagte: "Jetzt iß!" Heidi ergriff sein Schüsselchen und trank, ohne es abzusetzen. Dann biß es in sein Brot.

Als das Essen beendet war, ging der Großvater in den Geißenstall und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen. Dann



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ging er zum Schuppen nebenan, schnitt dort runde Stöcke zurecht, hackte an einem Brett herum und bohrte Löcher hinein. Dahinein steckte er dann die runden Stöcke und stellte das Brett auf. Da war es auf einmal ein Stuhl wie der vom Großvater, nur viel höher.

So kam der Abend heran. Ein mächtiger Wind brauste durch die dichten Wipfel der Tannen, so daß Heidi ganz fröhlich darüber wurde und unter den Tannen umherhüpfte. Da ertönte ein schriller Pfiff. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und mittendrin Peter. Mit einem Freudenruf schoß Heidi mitten in das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute morgen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schöne Geißen, eine weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände. Darin hielt er ein wenig Salz, wie er es jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein machte.



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Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zärtlich die Geißen, sprang um sie herum und war voller Glück und Freude über die Tierchen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, melkte der Großvater gleich das Schüsselchen voll, schnitt ein Stück Brot ab und sagte: "Jetzt iß, und dann geh hinauf und schlaf! Ich muß mit den Geißen hinein, schlaf nun wohl!"

"Gute Nacht, Großvater! Gute Nacht - wie heißen sie, Großvater, wie heißen sie?" rief das Kind und lief den Geißen nach.

"Die weiße Geiß heißt Schwänli und die braune Bärli", gab der Großvater zurück.

"Gute Nacht, Schwänli, gute Nacht, Bärli!" rief nun Heidi noch hinterher, setzte sich auf die Bank, aß sein Brot und trank seine Milch. Dann ging es hinein und stieg zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich danach fest und herrlich schlief.

Heidi erwachte am frühen Morgen von einem lauten Pfiff. Als es die Augen aufschlug, kam durch das runde Loch ein goldener Schein auf sein Lager. Es schaute erstaunt um sich und wußte gar nicht, wo es war. Aber nun hörte- es draußen des Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenigen Minuten alles wieder angezogen, was es gestern getragen hatte, denn das war nicht viel. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei.

"Willst du mit auf die Weide?" fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte vor Freude um ihn herum.

"Aber erst waschen, sonst lacht dich ja die Sonne aus. Sieh, dort ist's für dich hergerichtet." Der Großvater zeigte auf eine große Bütte mit Wasser, die vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang barfuß hinein und plantsehte und rieb, bis es ganz sauber war. Inzwischen ging der Großvater in die Hütte und rief Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Brotsack mit!" Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte



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sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug. Der Alte steckte ein großes Stück Brot und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Peter machte vor Erstaunen große Augen, denn die Stücke waren wohl noch einmal so groß wie die zwei, die er als Mittagsmahl drinnen hatte.

"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort, "denn das Kind kann nicht wie du nur so von der Geiß weg trinken, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst. Gib acht, daß es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?"

Nun kam Heidi herbeigelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?"fragte es eifrig.

"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er, "jetzt könnt ihr ausziehen."

Lustig ging es die Alm hinan. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da standen ganze Stauden feiner roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblättrigen, goldenen Ziströschen in der Sonne. Heidi pflückte einige Blumen und packte sie in sein Schürzchen, denn es wollte sie alle mit heimnehmen.

Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich mit seinen Geißen haltmachte und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuß der hohen Felsen. An der einen Seite der AIp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter, und der Großvater hatte recht, davor zu warnen. Als diese Höhe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine Vertiefung, denn der Wind kam manchmal in starken Stößen dahergefahren. Das kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen. Dann streckte er sich lang auf den Weideboden hin.

Heidi hatte inzwischen sein Schürzchen losgemacht, schön fest zusammengerollt und zum Brotsack gelegt, und nun setzte es sich neben Peter und schaute sich um. Das Tal lag weit unten



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im vollen Morgenglanz. Vor ihm erhob sich ein großes, weites Schneefeld hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand ein ungeheurer Felsenblock, zu dessen beiden Seiten ein hoher Felsenturm kahl und zackig, in die Bläue hinaufragte. Peter war eingeschlafen, und die Geißen kletterten oben in den Büschen umher. Heidi war es so schön zumute wie noch nie in seinem Leben.

Jetzt begann Peter auf einmal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was das bedeuten sollte. Aber die Geißen mußten die Töne verstehen, denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der grünen Halde versammelt. Heidi rannte mitten unter die Geißen.

Inzwischen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die darin waren, schön auf den Boden hingelegt. Die großen Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf seine, denn er wußte genau, wie er sie bekommen hatte. Dann nahm er das Schüsselchen, molk frische Milch vom Schwänli hinein und rief Heidi herbei.

"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter. Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch für mich?" fragte es.

"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke sind auch für dich, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen vom Schwänli, und dann komme ich."

Heidi trank die Milch aus, und sobald es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch größer als Peters eigenes Stück war, reichte es ihm mit dem ganzen großen Brocken Käse hinüber und sagte: "Das kannst du haben, ich habe genug."

Peter schaute Heidi verwundert an. Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi ernst sei. Weil Peter nicht zugriff, legte es ihm das Brot auf die Knie. Nun sah er, daß es ernst gemeint war. Er nahm sein Geschenk, nickte dankend und hielt nun ein so reichliches Mit-



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tags mahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi schaute indessen nach den Geißen aus.

"Wie heißen sie alle, Peter?"fragte es.

Das wußte dieser nun ganz genau und konnte es um so besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Heidi hörte aufmerksam zu, und es dauerte nicht lange, so konnte es jede bei ihrem Namen nennen. Da war der große Türk mit den starken Hörnern, der wollte immer gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er kam. Nur der kecke Distelfink wich ihm nicht aus, sondern rannte so rasch und tüchtig gegen ihn an, daß der große Türk öfters ganz erstaunt dastand. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so flehentlich meckerte, daß Heidi es schon mehrmals tröstend beim Kopf genommen hatte.

Auf einmal sprang Peter auf und setzte mit großen Sprüngen den Geißen nach, und Heidi lief hinterdrein. Peter lief mitten durch das Geißenrudel dorthin, wo die Felsen schroff und kahl abfielen. Es hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite gehüpft war, und er kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geißlein dem Rand des Abgrunds zu. Peter wollte es packen, da stürzte er auf den Boden und konnte im Sturz noch ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten.

Peter schrie laut nach Heidi, damit es ihm helfe. Heidi riß schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden, hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend: "Komm, Distelfink! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen."

Das Geißlein wandte sich schnell um und fraß Heidi vergnügt die Kräuter aus der Hand, während Peter den Distelfink an der Schnur faßte, mit der sein Glöckchen um den Hals gebunden war. Heidi faßte ihn von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Peter erhob seine Rute und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln. Aber Heidi schrie laut auf: "Nein, Peter, nein, du darfst ihn nicht schlagen!"



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Peter schaute erstaunt auf Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, daß er unwillkürlich seine Rute niederhielt. "So soll er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst", sagte dann Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er für den ausgestandenen Schreck haben.

"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich dir auch ganz viel; aber dann darfst du den Distelfink nie, nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Geiß."

So war unbemerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne dabei, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: "Peter! Peter! Es brennt, es brennt! Alle Berge brennen, und der große Schnee drüben brennt und der Himmel! Alles, alles ist im Feuer!"

"Das war immer so", sagte Peter gemütlich und schälte an seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."

"Was ist es denn?" fragte Heidi und sprang hierhin und dorthin. Aber Peter konnte es auch nicht erklären.



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"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen wir heim."

Jetzt war Heidi beruhigt, und es hatte so viele Eindrücke in sich aufgenommen, daß es ganz still schwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Großvater unter den Tannen sitzen sah. Dort hatte er auch eine Bank angebracht und erwartete am Abend seine Geißen. Heidi sprang gleich auf ihn zu, und Schwänli und Bärli liefen hinter ihm drein. Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!"

"Oh, Großvater, das war so schön!" rief Heidi, noch bevor es bei ihm war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich dir bringe!" Und damit schüttelte Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr.

"Oh, Großvater, was haben sie?" rief Heidi erschrocken aus. "So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"

"Die wollen draußen in der Sonne stehen und nicht ins Schürzlein hinein", sagte der Großvater.

"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen."

Als Heidi später auf seinem hohen Stuhl vor seinem Milchschüsselchen saß und der Großvater neben ihm, da erzählte es, wie schön es gewesen sei dort oben, und besonders das Feuer am Abend.



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Bei der Großmutter

Am anderen Morgen schien wieder die helle Sonne, und dann kam Peter mit den Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander zur Weide hinauf. So ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben so kräftig und gesund, daß ihm nie etwas fehlte. Froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vöglein im Walde leben. Als es nun Herbst wurde und der Wind laut über die Berge brauste, sagte der Großvater schon einmal: "Heute bleibst du da, Heidi, ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."

Wenn das aber am Morgen Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus, denn er sah lauter Mißgeschick vor sich. Erstens wußte er nun vor Langeweile gar nichts mehr anzufangen, und dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl.

Heidi dagegen war niemals unglücklich, denn es sah immer irgend etwas Erfreuliches vor sich. Am liebsten ging es schon mit auf die Weide, aber auch das Hämmern, Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr unterhaltend.

Jetzt schien die Sonne nicht mehr so heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe und auch das Röcklein hervor. Dann wurde es kalt, und Peter hauchte in die Hände, wenn er früh am Morgen heraufkam. Aber einmal fiel über Nacht tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein ringsum mehr zu sehen.

Da kam der Geißenpeter nicht mehr, und Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster. Die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, daß man das Fenster



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gar nicht mehr aufmachen konnte und in dem Häuschen richtig verpackt war.

Der Großvater ging hinaus und schaufelte um das ganze Haus herum und warf große Schneehaufen aufeinander. Nun waren Fenster und Tür wieder frei. Als dann am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, da polterte auf einmal etwas heran und machte endlich die Tür auf. Es war der Geißenpeter.

"Nun, Geißengeneral, wie steht's?" fragte der Großvater. "Nun bist du ohne Untertanen und mußt am Griffel nagen."

"Warum muß er am Griffel nagen, Großvater?"fragte Heidi.

"Im Winter muß er in die Schule gehen", erklärte der Großvater. "Da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt, nicht wahr, General?"

"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.

Der Großvater stand auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.

Es stand nun auch eine Bank an der Wand, die der Großvater gezimmert hatte. Seit er nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze eingerichtet. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen, und Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi ihm auf sein Brot legte.

Als das vergnügte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Nachdem er "Gute Nacht" gesagt und sich bedankt hatte und schon an der Tür war, kehrte er noch einmal um und sagte: "Am Sonntag komm' ich wieder, heut über acht Tage, und du sollst auch einmal zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."

Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi. Gleich am folgenden Morgen war Heidis erstes Wort: "Großvater, jetzt muß ich gewiß zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich."

"Es hat zuviel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend. Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, und am vierten



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Tag, als es draußen vor Kälte bei jedem Schritt knisterte und knarrte und die Schneedecke ringsum hart gefroren war, begann es wieder sein Sprüchlein: "Heute muß ich aber bestimmt zur Großmutter gehen, es dauert ihr sonst zu lange."

Da stand der Großvater vom Mittagstisch auf, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!"

In großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. Der Großvater war in den Schuppen gegangen und kam nun mit einem Stoßschlitten heraus. Da war auf einer Seite eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte man die Füße nach vorn gegen den Schneeboden stemmen und so der Fahrt die Richtung geben. Hier setzte sich der Großvater hin, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bliebe, und drückte es fest mit dem linken Arm an sich.



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Dann umfaßte er mit der rechten Hand die Stange und gab mit beiden Füßen einen Ruck. Da schoß der Schlitten mit einer solchen Schnelligkeit die Alm hinab, daß Heidi dachte, es flöge wie ein Vogel in der Luft. Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte: "So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann komm wieder heraus und mach dich auf den Weg!"Dann kehrte er mit seinem Schlitten um und zog ihn den Berg hinauf.

Heidi machte die Tür auf und trat in die Küche. Dann kam gleich wieder eine Tür, die machte Heidi auch auf und kam in eine enge Stube hinein. Es stand gleich vor einem Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Jacke. In der Ecke saß ein altes Mütterchen und spann. Heidi wußte gleich, woran es war; es ging auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter, jetzt komme ich zu dir."

Die Großmutter hob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war. Als sie diese erfaßt hatte, fühlte sie erst eine Weile nachdenklich, dann sagte sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"

"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem Großvater im Schlitten heruntergefahren."

Peters Mutter Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war aufgestanden und betrachtete nun das Kind voller Neugierde von oben bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi selber mit ihm heruntergekommen ist. Es ist kaum zu glauben."

Aber Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergefahren ist; das war der Großvater."

"Es muß doch etwas daran sein, was der Peter vom Alm-Öhi erzählt hat", sagte die Großmutter. "Wer hätte freilich auch glauben können, daß so etwas möglich sei. Ich dachte, das Kind lebe keine drei Wochen da oben."



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Inzwischen war Heidi nicht müßig geblieben; es hatte alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh, Großmutter, dort schlägt der Wind einen Laden immer hin und her. Der Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, damit er wieder festhält, sonst schlägt er noch einmal eine Scheibe ein."

"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter. "Sehen kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr als den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt."

"Aber warum kannst du es denn nicht sehen, Großmutter?" fragte Heidi.

"Ach, Kind, ich kann ja nichts sehen, gar nichts", klagte die Großmutter.

"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, daß es recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"

"Nein, auch dann nicht, es kann mir's niemand mehr hell machen", antwortete die Großmutter betrübt.

Jetzt brach Heidi in ein lautes Weinen aus. "Wer kann dir's denn wieder hell machen? Kann es niemand? Kann es gar niemand?"

Die Großmutter versuchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr nicht so bald. "Komm, du gutes Heidi, komm hierher, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich höre es gern, wenn du redest. Komm, setz dich zu mir und erzähl mir, was du da oben machst und was der Großvater macht, ich habe ihn früher gut gekannt. Jetzt aber habe ich seit manchem Jahr nichts mehr von ihm gehört, außer durch den Peter, aber der sagt nicht viel."

Da kam Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Tränen weg und sagte tröstlich: "Warte nur, Großmutter, ich will alles dem Großvater sagen, er macht es dir schon wieder hell und auch, daß die Hütte nicht zusammenfällt. Er kann alles wieder in Ordnung machen."



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Die Großmutter schwieg still, und nun fing Heidi an, ihr mit großer Lebendigkeit von seinem Leben mit dem Großvater zu erzählen. Plötzlich wurde die Erzählung durch ein lautes Gepolter an der Tür unterbrochen, und herein stampfte Peter, blieb aber sogleich stehen und sperrte seine runden Augen weit auf, als er Heidi erblickte.

"Ist denn das möglich, daß der schon aus der Schule kommt!" rief die Großmutter verwundert aus. "So geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?"

"Gleich", gab der Peter zur Antwort.

"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung mit der Zeit, wenn du dann im Herbst zwölf Jahre alt wirst."

"Warum muß es eine Änderung geben, Großmutter?" fragte Heidi.

"Ich meine nur, daß er das Lesen bald lernt", sagte die Großmutter. "Ich habe gehofft, wenn Peterli lesen lernt, so könnte er mir etwa ein gutes Lied vorlesen, aber es ist ihm zu schwer."

"Ich denke, ich muß Licht machen, es wird schon ganz dunkel", sagte jetzt Peters Mutter.

Nun sprang Heidi von seinem Stuhl auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: "Gute Nacht, Großmutter, ich muß auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird." Hintereinander bot es Peter und seiner Mutter die Hand und ging zur Tür. Aber die Großmutter rief besorgt: "Wart, wart, Heidi! So allein darfst du nicht fort, der Peter muß mit dir, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"

"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich werde schon nicht frieren." Damit war es zur Tür hinaus und huschte so behend weiter, daß Peter kaum nachkam. Die Kinder hatten aber erst ein paar Schritte den Berg hinan getan, da sahen sie von oben herunter den Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor ihnen.



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"Recht so, Heidi, Wort gehalten!" sagte er, packte das Kind wieder fest in die Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg hinauf. Brigitte hatte gerade noch gesehen, wie der Alte das Kind wohlverpackt auf seinen Arm genommen hatte. Sie erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte. Auch diese mußte sich sehr wundern und sagte: "Gott Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir läßt, das Kind hat mir so gutgetan! Was es für ein gutes Herz hat und wie es so kurzweilig erzählen kann! Jetzt habe ich doch noch etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen kann!"

Sobald der Großvater nun, oben angekommen, Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater, morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden bei der Großmutter festschlagen und sonst noch viele Nägel einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."

"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?"

"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es so", entgegnete Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest, und es ist der Großmutter angst und bange, wenn sie nicht schlafen kann und denkt, jetzt fällt alles ein. Morgen wollen wir gehen und ihr helfen. Gelt, Großvater, wir wollen?"

Heidi hatte sich an den Großvater geklammert und blickte voller Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Weile auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen machen, daß es nicht mehr so bei der Großmutter klappert, das können wir; morgen tun wir's."

Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgeführt, und kaum hatte Heidi die Tür der Geißenpeter-Hütte aufgemacht, rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da kommt das Kind! Da ist das Kind!" Sie streckte beide Hände nach dem Kind aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das Stühlchen ganz nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter eine Menge zu erzählen.

Auf einmal ertönten gewaltige Schläge an das Haus, daß die Großmutter vor Schreck zusammenfuhr. Heidi hielt sie fest um



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den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er alles fest."

NAch, ist das auch möglich! So hat uns der liebe Gott nicht ganz vergessen!" rief die Großmutter aus. "Hast du's gehört, Brigitte? Wahrhaftig, es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und sage ihm, er soll doch dann auch hereinkommen, damit ich ihm danken kann."

Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer Gewalt neue Kloben in die Wand ein; Brigitte trat an ihn heran und sagte: "Ich wünsche einen guten Abend, Öhi, und die Mutter auch. Die Mutter möchte dir drinnen noch gern besonders danken."

"Mach's kurz", unterbrach sie der Alte. "Was ihr vom Öhi haltet, weiß ich schon. Geh nur wieder hinein; wo's fehlt, find' ich schon."

Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Inzwischen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom Großvater warm verpackt und auf den Arm genommen wurde, während der Schlitten nachgezogen werden mußte.

So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gekommen. Vom frühen Morgen an lauschte sie schon auf den trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf, dann rief sie jedesmal: "Gottlob! Da kommt's wieder!"

Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter und kam an jedem schönen Wintertag auf seinem Schlitten heruntergefahren. Der Großvater hatte jedesmal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag hindurch an dem Häuschen herumgeklopft. Die Großmutter sagte, so habe sie schon manchen Winter nicht mehr schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.



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Zwei Besuche und ihre Folgen

Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage. Es war nun in seinem achten Jahr und hatte vom Großvater allerlei Kunstgriffe erlernt; mit den Geißen wußte es so gut umzugehen wie nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie treue Hündchen. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal vom Schullehrer im Dörfli die Nachricht gebracht, der Alm-Öhi solle das Kind in die Schule schicken. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen, wenn er etwas von ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er jedenfalls nicht in die Schule.

Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und überall im Tal die weißen Schneeglöckchen hervorguckten, rannte Heidi vor Wonne immer hin und her. Es lief von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen, dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wieviel größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen geworden sei. Als Heidi jetzt wohl zum zehnten Male über die Türschwelle sprang, wäre es vor Schreck fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem alten Herrn.

Es war der alte Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und seiz4 Nachbar war. Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zi. und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."

Verwundert schaute dieser in die Höhe, s entgegnete: "Guten Morgen, Herr Pfarrer." Dann stellte er seinen Stuhl vor den Herrn hin.



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"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater, und Heidi verschwand sofort.

"Das Kind hätte schon vor einem Jahr, mindestens aber diesen Winter die Schule besuchen müssen", sagte nun der Pfarrer. "Der Lehrer hat Sie mahnen lassen, Sie haben keine Antwort darauf gegeben; was haben Sie mit dem Kind im Sinn?" "Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken!" Verwundert schaute der Pfarrer auf den Alten. "Was wollen Sie aus dem Kind machen?"

"Nichts. Es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei denen ist ihm wohl, und es lernt nichts Böses bei ihnen."

"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein Mensch. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es muß aber



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etwas lernen. Das war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen Unterricht zugebracht hat."

"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.

"Meinen Sie denn wirklich, es gäbe kein Mittel, Sie zur Vernunft zu bringen, wenn Sie so eigensinnig sind?"

"So", sagte der Alte, und seine Stimme verriet, daß es auch in seinem Innern nicht mehr ganz so ruhig war. "Glauben Sie denn, Herr Pfarrer, ich werde im nächsten Winter ein zartes Kind zwei Stunden weit den Berg hinunterschicken und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn man fast in Wind und Schnee ersticken müßte?"

"Sie haben ganz recht, Nachbar", sagte der Pfarrer mit Freundlichkeit. "Es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur Schule zu schicken. Aber ich sehe, das Kind ist Ihnen lieb; tut um seinetwillen etwas, was Sie schon lange hätten tun sollen. Kommen Sie wieder ins Dörfli herunter und leben Sie wieder mit den Menschen! Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und Menschen!"

Der Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im nächsten Winter sind Sie wieder unten bei uns, und wir sind die guten alten Nachbarn."

Der Alm-Öhi gab dem Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir, aber was er erwartet, das tu' ich nicht. Das Kind schicke ich nicht, und herunter komm' ich nicht."

"So helfe Ihnen Gott!" sagte der Pfarrer und ging traurig zur Tür hinaus und den Berg hinunter.

Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heute nicht." Den ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: "Gehen wir heute zur Großmutter?", sagte er nur: "Wollen sehen."

Aber noch bevor die Schüsseln vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Tür herein: es war die



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Base Dete. Der Öhi schaute sie von oben bis unten an und sagte kein Wort. Aber die Base hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen. So fing sie gleich zu rühmen an und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr erkannt. Man könne schon sehen, daß es ihm nicht schlecht beim Großvater gegangen sei. Sie habe aber gewiß auch immer daran gedacht, es ihm wieder abzunehmen, deswegen komme sie auch heute.

Sehr reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die im wohl schönsten Haus von ganz Frankfurt wohnten, hätten ein einziges Töchterchen. Das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf einer Seite gelähmt. So sei es fast immer allein und müsse auch allen Unterricht allein bei einem Lehrer nehmen. Das sei ihm so langweilig, und es hätte gern eine Gespielin im Haus, ein recht unverdorbenes Kind, das nicht sei wie andere. Da habe sie selbst auf der Stelle an Heidi gedacht und der Dame alles vom Heidi erzählt, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne kein Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück bevorstehe.

"Ich will jetzt nichts davon wissen", sagte der Öhi. Aber da fuhr die Dete auf und rief: "Ja, wenn du es so meinst, Öhi, so will ich dir denn auch sagen, wie ich es meine. Das Kind ist jetzt acht Jahre alt, kann nichts und weiß nichts, und du willst es nichts lernen lassen. Ich hab' es zu verantworten, wie's ihm geht. Aber ich gebe nicht nach, das sag' ich dir, und die Leute habe ich alle für mich."

"Schweig!" donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr mit ihm vor die Augen!"

Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus und ließ Heidi mit der Base allein.

"Du hast den Großvater böse gemacht", sagte Heidi und blitzte die Base wenig freundlich an.

"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base. "Wo sind deine Kleider?"



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"Ich komme nicht", sagte Heidi.

"Was sagst du?" fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich fort: "Komm, komm, du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du es gar nicht kennst." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor und packte sie zusammen.

"Ich komme nicht", wiederholte Heidi. -

"Sei doch nicht so dumm und störrisch wie eine Geiß. Begreif doch nur: Jetzt ist der Großvater böse; du hast ja gehört, daß er gesagt hat, wir sollten ihm nicht mehr vor die Augen kommen. Du weißt gar nicht, wie schön es in Frankfurt ist. Und gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen, bis dahin ist der Großvater wieder gut."

"Kann ich auf der Stelle wieder umkehren und heute abend heimkommen?"fragte Heidi.

"Ach was, komm jetzt! Ich sag' dir's ja, du kannst wieder heim, wenn du willst. Heute gehen wir bis nach Mayenfeld hinunter, und morgen früh sitzen wir in der Bahn. Mit der bist du sofort wieder daheim, das geht wie geflogen."

Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm genommen und führte Heidi an der Hand den Berg hinunter.

Da es noch nicht Weidezeit war, ging Peter noch im Dörfli zur Schule, oder sollte doch dahin gehen. Aber er machte hier und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze doch nichts, dahin zu gehen. So kam er eben in die Nähe seiner Hütte, ein Bündel langer Hasel ruten auf der Schulter. Er stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, dann sagte er: "Wo willst du hin?"

"Ich muß nur geschwind mit der Base nach Frankfurt", antwortete Heidi, "aber ich will erst noch zur Großmutter hinein, sie wartet auf mich."

"Nein, nein, es ist schon viel zu spät", sagte die Base und hielt Heidi fest an der Hand. "Du kannst dann zu ihr gehen, wenn du wieder heimkommst." Damit zog die Base Heidi weiter und ließ es nicht mehr los. Peter sprang in die Hütte hinein



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und schlug mit seinem ganzen Bündel Ruten so auf den Tisch los, daß die Großmutter vor Schreck vom Spinnrad aufsprang. Er hatte sich Luft machen müssen.

"Was ist denn?" rief die Großmutter angstvoll.

"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter und schlug in seinem Ärger noch wütender auf den Tisch.

"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?" fragte die Großmutter jetzt in neuer Angst. Sie mußte aber schnell erraten haben, was vorging, denn die Tochter hatte ihr vor kurzem berichtet, sie habe die Dete zum Alm-Öhi hinaufgehen sehen. Zitternd vor Eile machte die Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich: "Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg!"

Dete mochte wohl ahnen, was sie rief, denn sie faßte das Kind noch fester und lief, was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat gerufen, ich will zu ihr!"

Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind. Es könne ja sehen, wie es ihm in Frankfurt gefallen werde. Und wenn es doch heim wolle, so könne es gleich gehen und dann sogar der Großmutter etwas mit heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die ihm gefiel.

Heidi fing nun so zu rennen an, daß die Base mit ihrem Bündel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam.

Von dem Tag an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen Menschen und sah so drohend aus, daß die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: "Geht dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte euch noch etwas tun!"

Nur die blinde Großmutter hielt unentwegt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen, dem erzählte sie es immer wieder, wie gut der Alm-Öhi mit dem Kind umgegangen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage wieder mit dem Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer!"



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Lauter neue Dinge

Im Haus von Herrn Sesemann in Frankfurt lag Klara, das kranke Töchterlein, in dem bequemen Rollstuhl, in dem es sich den ganzen Tag aufhielt und von einem Zimmer ins andere geschoben wurde. Jetzt saß es im sogenannten Studierzimmer.

Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren. Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"

Fräulein Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren im Hause Sesemann. Seitdem die Frau des Hauses gestorben war, führte sie die Wirtschaft und hatte die Aufsicht über das ganze Personal. Herr Sesemann war meist auf Reisen und überließ daher Fräulein Rottenmeier das ganze Haus.

Zur gleichen Zeit stand Dete mit Heidi an der Hand unten vor der Haustür. Nachdem sie von dem Hausmädchen Tinette eingelassen waren, folgten sie ihm in das Studierzimmer, wo sie bereits erwartet wurden. Hier blieb Dete höflich an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend.

Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte ein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes, zerdrücktes Stroh hütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter hervor.

"Wie heißt du?" fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem sie das Kind forschend angesehen hatte.



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"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.

"Wie? Was? So bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe erhalten?"

"Das weiß ich nicht", entgegnete Heidi.

"Ist das eine Antwort!" bemerkte die Dame mit Kopfschütteln. "Fräulein Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"

"Ich will gern für das Kind reden, denn es ist sehr unerfahren", sagte Dete, nachdem sie Heidi heimlich einen kleinen Stoß für die unpassende Antwort gegeben hatte. "Es ist aber nicht einfältig und auch nicht schnippisch, es meint alles so, wie es spricht. Aber es ist heute zum erstenmal in einem fremden Haus und kennt die guten Sitten nicht. Es ist Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine verstorbene Schwester."

"Nun wohl, das ist doch ein Name, den man aussprechen kann", sagte Fräulein Rottenmeier. "Aber, Fräulein Dete, ich muß Ihnen doch sagen, daß mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen gesagt, die Gespielin für Klara müßte in ihrem Alter sein. Klara hat das zwölfte Jahr zurückgelegt, wie alt ist denn das Kind?"

"Mit Erlaubnis", fing Dete wieder beredt an, "es war mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig. Es ist wirklich ein wenig jünger, viel bestimmt nicht, ich kann's nicht so genau sagen. So um zehn Jahre wird es alt sein, nehme ich an."

"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi. Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen.

"Was, erst acht Jahre alt?" rief Fräulein Rottenmeier mit einiger Entrüstung aus. "Vier Jahre zuwenig! Und was hast du gelernt? Was hast du für Bücher bei deinem Unterricht gehabt?"

"Keine", sagte Heidi und blickte Fräulein Rottenmeier ganz erstaunt an.

"Wie hast du denn lesen gelernt?" fragte die Dame weiter.

"Das hab' ich nicht gelernt, und der Peter auch nicht."

"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Fräulein Dete, wie konnten Sie mir dieses Kind zuführen!"



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Aber Dete ließ sich nicht so bald einschüchtern, sie antwortete herzhaft: "Das Kind ist so, wie Sie es haben wollten; ich dachte, es passe wie gemacht auf die Beschreibung. Jetzt muß ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich. Ich will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wiederkommen und nachsehen, wie es ihm geht."

Mit einem Knicks war Dete zur Tür hinaus und mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Fräulein Rottenmeier lief ihr nach. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus allem schweigend zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"

Heidi trat an den Rollstuhl heran.

"Willst du lieber Heidi oder Adelheid heißen?" fragte Klara.

"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.



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"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara. "Der Name gefällt mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe auch noch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Bist du gern nach Frankfurt gekommen?"

"Nein, aber morgen gehe ich dann wieder heim und bringe der Großmutter weiße Brötchen!" erklärte Heidi.

"Du bist aber ein komisches Kind!" fuhr jetzt Klara auf. "Man hat dich ja eigens nach Frankfurt kommen lassen, damit du bei mir bleibst und die Stunden mit mir nimmst. Siehst du, es wird nun ganz lustig, weil du noch gar nicht lesen kannst. Denn jeden Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."

Heidi schüttelte recht bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen hörte.

"Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du lesen lernen, alle Menschen müssen es. Der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse, und er erklärt dir dann schon alles, was du noch nicht weißt."

Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder. ins Zimmer zurück. Sie lief vom Studierzimmer ins Eßzimmer hinüber und von da wieder zurück und fuhr den Diener Sebastian an, der seine Augen eben prüfend über den gedeckten Tisch gleiten ließ.

"Machen Sie, daß wir bald essen können!" Mit diesen Worten lief Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und rief nach Tinette, die mit noch viel kleineren Schritten als gewöhnlich herantrippelte.

"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette", sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe.

Inzwischen hatte Sebastian die Doppel türen zum Studierzimmer mit ziemlichem Knall aufgeschlagen. Dann trat er gelassen ins Studierzimmer, um den Rollstuhl hinüberzuschieben. Im Eßzimmer wurde Klara von Sebastian herausgehoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.



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Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, den Platz ihr gegenüber einzunehmen. Das Kind saß mäuschenstill und rührte sich nicht, bis Sebastian mit der großen Schüssel zu ihm trat und ihm die gebratenen Fische hinhielt. Heidi sah ihm eine Zeitlang verwundert zu, dann fragte es: "Soll ich auch von dem essen?"Sebastian nickte wieder.

"So gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen fing gefährlich an zu zittern.

"Sie können die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen", sagte Fräulein Rottenmeier jetzt mit strengem Gesicht. Sebastian verschwand sogleich.

"Dir, Adelheid, muß ich überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzen fort. "Vor allem will ich dir zeigen, wie man sich bei Tisch bedient."

Und nun machte die Dame eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte. Dann folgten noch viele Verhaltensmaßregeln: über Aufstehen und Zubettgehen, über Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten und Türenschließen.

Darüber fielen Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte sich an den Sessel rücken und schlief ein. Als dann Fräulein Rottenmeier nach längerer Zeit mit ihrer Unterweisung zu Ende gekommen war, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles recht begriffen?"

"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit belustigtem Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so kurzweilig gewesen.

"Es ist doch unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!" rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger. Man hatte die größte Mühe, Heidi zu wecken, daß es in sein Schlafzimmer gebracht werden konnte.



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Ein unruhiger Tag

Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt die Augen aufschlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb sich die Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es saß auf einem hohen weißen Bett, und vor sich sah es einen großen weiten Raum, und wo die Helle hereinkam, hingen lange weiße Vorhänge. Daneben standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf, und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und einem runden Tisch davor. In der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie sie Heidi noch nie gesehen hatte.

Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, daß es in Frankfurt sei. Heidi sprang vom Bett und machte sich fertig. Erst ging es an ein Fenster und dann an das andere. Es mußte den Himmel sehen und die Erde draußen und fühlte sich wie im Käfig hinter den großen Vorhängen. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück, aber immer war dasselbe vor seinen Augen: Mauern und Fenster und wieder Mauern und Fenster.

Noch war es früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, auf der Alm früh aufzustehen und dann gleich vor die Tür hinauszulaufen, um zu sehen, wie's draußen sei. Wie das Vöglein, das zum erstenmal in einem schönen Gefängnis sitzt und hin und her schießt und an allen Stäben probiert, ob es nicht da hindurchschlüpfen und in die Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi von einem Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufzumachen sei.

Dann klopfte es an der Tür, und unmittelbar darauf steckte Tinette den Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"



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Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten. Auf dem spöttischen Gesicht von Tinette stand eher eine Warnung, ihr nicht nahe zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben.

Heidi nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch hervor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen werde. Nach einiger Zeit kam etwas mit ziemlichem Geräusch. Es war Fräulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief: "Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück ist? Komm sofort herüber!"

Das verstand Heidi nun und folgte sogleich nach. Im Eßzimmer saß Klara schon lange an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich. Sie machte auch ein vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich, denn sie sah voraus, daß heute wieder allerlei Neues geschehen werde. Das Frühstück ging ohne Störung vor sich. Heidi aß anständig sein Butterbrot, und als alles zu Ende war, wurde Klara wieder ins Studierzimmer hinübergerollt. Heidi wurde angewiesen, bei Klara zu bleiben, bis der Herr Kandidat kommen werde.

Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und Heidi erzählte mit Freuden von der Alm, den Geißen und allem, was ihm lieb war.

Inzwischen war der Kandidat angekommen, aber Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht wie gewöhnlich ins Studierzimmer. Sie mußte sich erst aussprechen und ging mit ihm ins Eßzimmer, wo sie ihm in großer Aufregung die Lage schilderte.

Auf einmal ertönte im Studierzimmer ein schreckliches Krachen und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Fräulein Rottenmeier stürzte hinein. Da lag alles auf dem Boden übereinander: Bücher, Hefte, Tintenfaß und obendrauf die Tischdecke, unter der ein schwarzes Tinten bächlein die ganze Stube entlang hervorfloß. Heidi war verschwunden.

"Da haben wir's!" rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus. "Das war ganz gewiß das Unglückswesen!"



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Der Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die Verwüstung. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht. Es darf gewiß nicht bestraft werden. Es hatte es nur so schrecklich eilig, fortzukommen, und riß die Decke mit, und so fiel alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen vorbei, darum ist es so fortgeschossen. Vielleicht hat es noch nie eine Kutsche gesehen."

Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Unter der geöffneten Haustür stand Heidi und guckte ganz verblüfft die Straße auf und ab.

"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so davonlaufen!" fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.

"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie stehn, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war. Das hatte in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen, so daß es in höchster Freude dem Geräusch nachgerannt war.

"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm herauf und sieh, was du angerichtet hast!"

Am Nachmittag mußte Klara immer eine Zeitlang ruhen, und dann konnte Heidi seine Beschäftigung selbst wählen. Als sich Klara nun nach Tisch in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier in ihr Zimmer. Das war Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn gehabt, etwas zu unternehmen, nur mußte es dazu eine Hilfe haben. Als nach kurzer Zeit Sebastian die Treppe heraufkam, fragte Heidi:

"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"

"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf. Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können. Es reichte nur bis zum Gesims hinauf.

"Da, nun kann das Fräulein einmal hinausgucken und sehen, was unten ist", sagte Sebastian und hatte schon einen Schemel



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herbeigeholt. Hocherfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der Enttäuschung zog es sogleich den Kopf zurück.

"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte das Kind traurig. "Wenn man aber um das ganze Haus herumgeht, was sieht man dann auf der anderen Seite?"

"Genau dasselbe", gab Sebastian zur Antwort.

"Aber wohin kann man denn gehen, damit man weit, weit über das ganze Tal sehen kann?"

"Da muß man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, wie der dort mit der goldenen Kugel oben drauf."

Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herab, rannte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht so, wie Heidi sich das vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es brauchte nur über die Straße zu gehen, so müßte es gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken. Bald kam es in eine andere Straße hinein, aber



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immer noch sah es den Turm nicht. Da sah es an der nächsten Straßenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein seltsames Tier auf dem Arm trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte:

"Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel?"

"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum und zog ein Bildchen hervor, darauf war ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt. Doch der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.

"Was willst du denn?" fragte Heidi und steckte vergnügt sein Bildchen wieder ein. "Geld habe ich keins, aber Klara hat welches, sie gibt mir sicher etwas. Wieviel willst du?"

"Zwanzig Pfennig", antwortete der Junge.

"So komm jetzt", sagte Heidi, und nun wanderten die beiden eine lange Straße entlang, und auf dem Weg fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage. Er erklärte, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe. Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit einem hohen Turm.

"Aber wie komm' ich da hinein?"fragte Heidi, als es die verschlossenen Türen sah. Da entdeckte es eine Klingel an der Mauer und zog mit allen Kräften daran.

"Wenn ich hinaufgehe, mußt du hier unten warten. Ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du mußt ihn mir zeigen."

"Was gibst du mir dann?"

"Was muß ich dir dafür geben?"

"Wieder zwanzig Pfennig."

Jetzt wurde das alte Schloß inwendig umgedreht und die knarrende Tür geöffnet. Ein alter Mann trat heraus und sah erst verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an: "Was untersteht ihr euch, mich da hinunterzuklingeln? Könnt ihr nicht lesen, was über der Klingel steht: ,Für solche, die den Turm besteigen wollen'?"

"Eben auf den Turm wollt' ich. Nur ein einziges Mal!"



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Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, daß es ihn ganz umstimmte. Er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: "Wenn dir soviel daran gelegen ist, so komm mit!"

Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder, und Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf. Dann wurden diese immer schmaler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und sie waren oben. Der Türmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster. Es sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder. Da zog es bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist gar nicht so, wie ich gedacht habe."

Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg mit ihm die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tür, die in des Türmers Stube führte, und nebenan ging der Boden bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein Korb, und davor saß eine dicke graue Katze und fauchte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie. heidi trat an den Korb heran und brach in großes Entzücken aus.

"Willst du eins haben?"fragte der Türmer.

"Für mich selbst? Für immer?" fragte Heidi gespannt und konnte das große Glück fast nicht glauben.

"Ja, gewiß, du kannst auch noch mehr haben. Du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden.

Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Haus hatten ja die Kätzchen soviel Platz. Wie würde Klara erfreut sein!

Heidi konnte sich von dem lustigen Spiel fast nicht trennen. "Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara. Darf ich das?"

"So warte ein wenig", sagte der Türmer. Dann trug er die alte Katze behutsam in seine Stube hinein und stellte sie vor das Eßsehüsselehen. Er schloß die Tür ab und kam zurück. "So, nun nimm zwei!"



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Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es suchte sich ein weißes und ein gelb und weiß gestreiftes aus und nahm eins in den rechten und eins in den linken Arm. Nun ging's die Treppe hinunter.

Der Junge saß noch draußen auf den Stufen, und als nun der Türmer hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus gehen?"

"Weiß nicht", war die Antwort.

Heidi beschrieb nun, was es wußte: die Haustür, die Fenster und die Treppen. Er lief schnell drauflos und Heidi hinter ihm drein. In kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien Sebastian, und als er Heidi erblickte, rief er drängend: "Schnell, schnell!"

Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu. Den Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.

"Schnell, Fräuleinchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins Eßzimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier sieht aus wie eine geladene Kanone."

Heidi trat ins Zimmer. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf, und Klara sagte auch nichts. Es war eine etwas unheimliche Stille. Als es auf seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen. Du hast dich sehr ungezogen benommen, weil du das Haus verließest, ohne zu fragen."

"Miau", ertönte es wie eine Antwort zurück.

Aber jetzt stieg der Zorn der Dame: "Wie, Adelheid", rief sie in immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag' ich dir!"

"Ich mache -—", fing Heidi an.

,Miau, miau!" ertönte es wieder. 4 Heidi I 49



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"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlaß das Zimmer!"

Heidi stand erschrocken auf und wollte noch einmal erklären:

"Ich mache gewiß

"Miau, miau, miau!"

"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, daß du Fräulein Rottenmeier so erzürnst, warum machst du immer wieder miau?"

"Ich mache es nicht, die Kätzchen machen es", konnte Heidi endlich ungestört hervorbringen.

"Wie? Was? Katzen, junge Katzen?" schrie Fräulein Rottenmeier auf. "Sebastian, Tinette! Sucht die greulichen Tiere, schafft sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer und riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein. Junge Katzen waren für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste der Schöpfung. Sebastian stand draußen vor der Tür und mußte erst fertig lachen, ehe er wieder eintreten konnte. Jetzt sah es ganz still und friedlich drinnen aus. Klara hielt die Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr, und beide spielten mit großer Wonne mit den beiden Tierchen.

"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns helfen. Sie müssen ein Nest für die Kätzchen finden, wo Fräulein Rottenmeier sie nicht sieht."

"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian bereitwillig. "Ich mache in einem Korb ein schönes Bettchen und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinterkommt." Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: Das wird noch was geben! Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.

Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag. Sie zog sich schweigend zurück. Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn sie wußten ihre Kätzchen gut aufgehoben.



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Es geht lebhaft zu

Als Sebastian am folgenden Morgen dem Hauslehrer die Tür geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder jemand an der Hausglocke, aber mit solcher Gewalt, daß Sebastian eilig die Treppe hinunterschoß. Er riß die Tür auf, da stand ein Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken vor ihm.

"Was soll das heißen?" fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"

"Ich muß zu Klara. Sie ist mir vierzig Pfennig schuldig."

"Du bist wohl nicht klar im Kopf! Woher weißt du überhaupt, daß ein Fräulein Klara hier ist? Mach, daß du weiter kommst!"

Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern. Er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch auf der Straße gesehen."

Oho, dachte Sebastian und kicherte in sich hinein, das ist das kleine Fräulein, das hat wieder etwas angestellt. Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen, das Fräulein hört es gern."

Oben klopfte er am Studierzimmer an und wurde hereingerufen.

"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara etwas zu bestellen hat", berichtete Sebastian. Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.

"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir sprechen muß."



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Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort an, seine Orgel zu drehen. Fräulein Rottenmeier stürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Tür auf. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.

"Aufhören, sofort aufhören!" rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde von der Musik übertönt. Jetzt lief sie auf den Jungen zu, aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Füßen. Sie sah auf den Boden. Ein grausiges schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Füßen hindurch, eine Schildkröte! Jetzt machte Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren keinen mehr getan hatte. Dann schrie sie aus Leibeskräften: "Sebastian! Sebastian!"

Plötzlich hielt der Orgeispieler inne, denn diesmal hatte die Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halboffenen Tür und krümmte sich vor Lachen. Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.

"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie es weg, Sebastian, sofort!" rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig und zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfaßt hatte. Draußen drückte er ihm etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für Fräulein Klara und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht."

Der Unterricht war inzwischen weitergegangen. Da klopfte es schon wieder, und Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein, der für Klara abgegeben worden war, und entfernte sich eilig wieder.

"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet und dann der Korb ausgepackt", sagte Fräulein Rottenmeier.

Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte. Sie blickte sehr verlangend nach dem Korb.

Der Deckel des Korbes saß nur lose drauf, und nun sprangen auf einmal eins, zwei, drei und noch mehr junge Kätzchen darunter hervor. Sie fuhren überall herum, kratzten, krabbelten und miauten. Klara rief immerfort voller Entzücken:



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"Oh, die niedlichen Tierchen, die lustigen Sprünge, sieh, sieh, Heidi!" Heidi rannte ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie aus Leibeskräften zu schreien an: "Tinette, Tinette! Sebastian, Sebastian!"

Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe herbei. Sebastian packte gleich ein Kätzchen nach dem anderen in den Korb hinein und trug sie auf den Boden zu dem Katzenlager, das er für die zwei Kätzchen von gestern bereitet hatte.



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Nun vergingen ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus. Klara dagegen war sehr vergnügt. Sie langweilte sich nie mehr, denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die lustigsten Sachen. In den späten Nachmittagsstunden saß Heidi bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange, bis das Heimweh danach in ihm so brennend wurde, daß es immer zum Schluß versicherte: "Nun muß ich gewiß wieder heim! Morgen muß ich gewiß fahren!"

Aber Klara beschwichtigte Heidi immer wieder und bewies ihm, daß es doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme. Man werde dann schon sehen, wie es weitergehe.

Wenn Heidi dann immer wieder nachgab und gleich zufrieden war, so nur wegen der fröhlichen Aussicht, die es im stillen hatte. Mit jedem Tag, den es noch dablieb, wurde sein Häuflein Brötchen für die Großmutter um zwei größer, denn mittags und abends lag immer ein schönes Brötchen bei seinem Teller. Das steckte es gleich ein, denn es hätte das Brötchen nicht bei dem Gedanken essen können, daß die Großmutter nie eines hatte und das harte schwarze Brot fast nicht mehr essen konnte.

Nach Tisch saß Heidi alltäglich allein in seinem Zimmer und hatte viel Zeit, sich auszumalen, wie grün die Alm nun wieder war und wie die gelben Blümchen im Sonnenschein glitzerten. Heidi konnte es fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base hatte ja gesagt, es könne wieder heimgehen, wann es wolle.

So kam es, daß Heidi es eines Tages nicht mehr aushielt. Es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote Halstuch, setzte ein Strohhütchen auf und zog aus. Aber schon unter der Haustür traf es Fräulein Rottenmeier. Sie stand still und sah in starrem Erstaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb besonders auf dem gefüllten roten Halstuch haften.

"Was ist das für ein Aufzug? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Dazu siehst du noch wie eine Landstreicherin aus."



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"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen", entgegnete Heidi erschrocken.

"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen willst du?" Fräulein Rottenmeier schlug die Hände zusammen. "Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wüßte! Fortlaufen aus seinem Hause! Paß auf, daß er das nie erfährt!"

"Ich will ja nur heim, und wenn ich so lange nicht komme, so muß das Schneehöppli immer klagen. Auch die Großmutter erwartet mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter keinen Käse erhält. Hier kann man nie sehen, wenn die Sonne gute Nacht zu den Bergen sagt."

Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt. Er war zuerst in das Zimmer seiner Tochter gegangen, um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war am späten Nachmittag, wo die beiden immer zusammen waren. Klara begrüßte ihren Vater sehr zärtlich, denn sie liebte ihn herzlich, und der gute Papa begrüßte sein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen und sagte freundlich:

"Und das ist unsere kleine Schweizerin! Komm her, gib mir mal eine Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freundinnen, Klara und du?"

"Klara ist immer gut zu mir", entgegnete Heidi.

"Das hör' ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand. "Nun mußt du aber erlauben, Klärchen, daß ich etwas esse. Nachher komm' ich wieder zu dir, und dann sollst du sehen, was ich mitgebracht habe!"

Herr Sesemann trat ins Eßzimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den Tisch überschaute. Nachdem er sich niedergelassen und die Dame, die wie ein lebendiges Mißgeschick aussah, ihm gegenüber Platz genommen hatte, wandte sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, Sie haben zu meinem Empfang ja ein wahrhaft schreckliches Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist doch ganz munter."



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"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist mitbetroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden. Wir hatten ja beschlossen, eine Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen. Aber ich bin wirklich schrecklich getäuscht worden."

"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So furchtbar schrecklich sieht mir das Kind gar nicht aus", erwiderte Herr Sesemann ruhig.

"Sie sollten nur wissen, Herr Sesemann, mit was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit bevölkert hat." In diesem Augenblick wurde der Kandidat angemeldet.

"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluß geben!" rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. "Und nun sagen Sie mir, was ist mit dem Kind los? Was hat es für eine Bewandtnis mit den Tieren, die es ins Haus gebracht hat, und wie steht es mit seinem Verstand?"

Der Kandidat mußte erst seine Freude über Herrn Sesemanns glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, deshalb war er ja erschienen. "Wenn ich mich über das Wesen des jungen Mädchens aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf aufmerksam machen, daß auf der einen Seite ein Mangel der Entwicklung, durch etwas verspäteten Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger -"

"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte lassen Sie sich nicht stören, ich werde - ich muß schnell noch einmal nach meiner Tochter sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Töchterchen hin. Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kind um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell" — Herr Sesemann wußte nicht recht, was, Heidi sollte aber ein wenig hinausgeschickt werden -, "hol mir mal ein Glas Wasser." Heidi verschwand.

"Nun, mein liebes Klärchen, sag du mir mal klar und verständlich: Was für Tiere hat deine Gespielin ins Haus gebracht,



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und warum muß Fräulein Rottenmeier denken, sie sei nicht ganz richtig im Kopf?"

Klara erzählte dem Vater erst die Geschichte von der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis Reden, die die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr Sesemann herzlich. "So willst du nicht, daß ich das Kind nach Hause schicke, Klärchen?"fragte der Vater.

"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!" rief Klara abwehrend aus. "Seit Heidi da ist, passiert immer etwas, jeden Tag. Es ist so kurzweilig, ganz anders als vorher, da passierte nie etwas, und Heidi erzählt mir soviel."

Noch am selben Abend erklärte Herr Sesemann, als er mit Fräulein Rottenmeier allein im Eßzimmer saß, die Gespielin seiner Tochter werde im Haus bleiben. Er finde, das Kind sei ganz normal und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr Sesemann bestimmt hinzu, "daß dieses Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt wird und seine Eigentümlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kind nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe für Sie in Aussicht. In nächster Zeit kommt meine Mutter zu längerem Aufenthalt in mein Haus, und meine Mutter wird mit jedem Menschen fertig. Das wissen Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"

"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung.

Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause. Schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft der Großmama, die schon in einigen Tagen erwartet werden konnte.

Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch am selben Abend Heidi so viel und so lange von der Großmama, daß Heidi auch anfing, von der "Großmama" zu reden.



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Eine Großmama kommt

Am folgenden Abend wurden lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann getroffen. Man konnte deutlich merken, daß die erwartete Dame ein gewichtiges Wort im Hause mitzusprechen hatte und daß jedermann großen Respekt vor ihr empfand.

Am nächsten Tag rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette stürzten die Treppe hinunter. Langsam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn sie wußte, daß auch sie zum Empfang von Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war befohlen worden, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und zu warten, bis es gerufen werde. Die Großmutter werde sicher zuerst -bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen wollen. Es dauerte gar nicht lange, so steckte Tinette den Kopf ein klein wenig durch Heidis Zimmertür und sagte wie immer kurz angebunden: "Hinüber ins Studierzimmer!"

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht mehr wegen der Anrede fragen können. Bis jetzt hatte es einen Erwachsenen immer erst mit Herr oder Frau anreden hören und danach mit dem Namen. Also hatte es sich die Sache mit der von der Hausdame gewünschten Anrede "gnädige Frau" nun selbst zurechtgelegt. Als es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und laß dich ansehen!"

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."

"Warum nicht gar!" sagte die Großmama und lachte. "Sagt man bei euch so? Hast du das daheim auf der Alp gehört?"

"Nein, bei uns heißt niemand so", antwortete Heidi ernsthaft.



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"So, bei uns auch nicht." Die Großmama lachte wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. "Das gibt es nicht. In der Kinderstube bin ich die Großmama. So sollst du mich nennen, das kannst du doch behalten, wie?"

"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "ich hab' vorher schon immer so gesagt."

"So, so, verstehe schon", sagte die Großmama und nickte belustigt mit dem Kopf. Dann sah sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf. Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, daß es Heidi ordentlich wohl wurde.

Als sich Klara am nächsten Tag zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte sich die Großmama neben sie auf einen Lehnstuhl und schloß für einige Minuten ihre Augen. Dann stand sie schon wieder auf, ging zu dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken bei dem unerwarteten Besuch zurück.

"Wo hält sich das Kind um diese Zeit auf, und was tut es?" fragte Frau Sesemann.

"Es sitzt in seinem Zimmer, wo es sich nützlich beschäftigen könnte, wenn es nur den leisesten Trieb dazu hätte. Sie sollten nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausführt."

"Das würde ich auch so machen, wenn ich so da drinnen säße wie dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen. Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube. Ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."

"Das ist ja gerade das Unglück", rief Fräulein Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das Kind mit Büchern anfangen? In all dieser Zeit hat es nicht einmal das Abc gelernt. Es ist völlig unmöglich, ihm auch nur einen Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!"

"So, das ist merkwürdig. Das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen könnte", sagte Frau Sesemann.



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"Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern ansehen."

Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte. Mit glühendem Blick schaute es auf das Bild, dann stürzten ihm plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig an zu schluchzen. Die Großmama sah das Bild an. Es zeigte eine schöne grüne Weide, wo allerlei Tiere herumsprangen und an den grünen Büschen nagten. In der Mitte stand der Hirt.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind!" sagte sie freundlich, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert. Aber sieh, da ist auch eine schöne Geschichte dazu, die erzähl' ich heute abend."

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun mußt du mir erzählen, Kind! Wie geht es denn in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du schon etwas?"

"0 nein", antwortete Heidi seufzend, "aber ich wußte schon, daß man es nicht lernen kann."

"Was kann man nicht lernen, Heidi, was meinst du?"

"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer. Der Peter hat es mir gesagt, und er weiß es schon. Er mußte es immer wieder probieren, aber er konnte es nie lernen."

"So, das ist mir ein schöner Peter! Aber sieh, Heidi, man muß nicht alles hinnehmen, was so ein Peter sagt, man muß es selbst probieren. Du hast nicht lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast. Nun aber sollst du m i r glauben, und ich sage dir, daß du in kurzer Zeit lesen lernen kannst wie alle anderen Kinder. Und nun mußt du wissen, was danach kommt, wenn du lesen kannst. Du hast doch den Hirten gesehen auf der grünen Weide. Sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte lesen, ganz so, als ob dir jemand erzählte, was er mit seinen Schafen und Ziegen macht. Das möchtest du schon wissen, Heidi, nicht?"



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Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt: "Oh, wenn ich nur lesen könnte!"

"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's dauern. Und nun müssen wir mal nach Klara sehen. Komm, die schönen Bücher nehmen wir mit!"

Seit dem Tag, an dem Heidi heimgehen wollte, hatte es gemerkt, daß es nicht heimgehen konnte, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern daß es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden, daß Herr Sesemann es sehr undankbar finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte, daß die Großmama und Klara auch so denken könnten. So durfte es keinem Menschen sagen, daß es sich nach der Heimat sehnte.

Aber in seinem Herzen wurde die Last immer schwerer. Es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange nicht einschlafen.



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Sobald es allein und alles ringsum still war, kam ihm alles lebendig vor die Augen: die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen. Wenn dann Heidi am Morgen erwachte und voller Freude aus der Hütte herausspringen wollte - da lag es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte es oft seinen Kopf in das Kissen und weinte leise, damit niemand es höre.

Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Als die Großmama manchmal schon am frühen Morgen sehen konnte, daß Heidi geweint hatte, nahm sie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube. Dort sagte sie mit großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi."

Aber gerade zu dieser freundlichen Großmama wollte sich Heidi nicht so undankbar zeigen. So sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."

"Nicht? Kann man es Klara sagen?" fragte die Großmama.

"0 nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so unglücklich aus, daß es die Großmama erbarmte.

"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, daß er helfe. Er allein kann allem Leid abhelfen, das uns bedrückt."

In Heidis Augen kam ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles, alles sagen, Großmama?"

"Gewiß, gewiß!" gab diese zur Antwort. Heidi lief hinüber in sein Zimmer. Hier setzte es sich auf einen Schemel nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte. Es bat ihn dringend und herzlich, daß er ihm helfe und es wieder zum Großvater heimkommen lasse.

Es mochte seit diesem Tag etwas mehr als eine Woche vergangen sein, als der Kandidat Frau Sesemann seine Aufwartung machte. "So, nun sagen Sie mir, was führt Sie zu mir? Doch nichts Schlimmes? Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?"



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In sprachlosem Erstaunen sah der überraschte Herr die Dame an. "Es ist wirklich wunderbar", sagte er endlich, "daß das junge Mädchen, das trotz meiner gründlichen Erklärungen und Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, jetzt sozusagen über Nacht das Lesen erfaßt hat."

"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnügt. "Es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen. Zum Beispiel neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode. Jetzt wollen wir uns freuen, daß das Kind soweit ist, und auf guten Fortgang hoffen."

Damit begleitete sie den Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch zum Studierzimmer, um selbst die erfreuliche Nachricht bestätigt zu finden. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor. Es las sie offenbar selbst mit dem größten Erstaunen, und mit wachsendem Eifer drang es in die neue Welt ein. Auf einmal traten ihm nun aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegen und gewannen Leben und wurden zu herzbewegenden Geschichten. Noch an demselben Abend, als man sich zu Tisch setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch mit den schönen Bildern liegen. Als es fragend zur Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja, nun gehört es dir!"

"Für immer? Auch wenn ich heimkomme?" fragte Heidi voller Freude.

"Gewiß, für immer!" versicherte die Großmama.

"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf Klara ein. "Wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du doch erst recht bei mir bleiben."

Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen. Von dem Tag an war es seine liebste Beschäftigung, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind glücklich.



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Im Hause Sesemann spukt's

Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes jeden Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte, Heidi auf ihre Stube gerufen. Dort hatte sie sich mit ihm ausgesprochen und es auf allerlei Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte Heidi, wie man ihnen Kleider und Schürzen macht, und ganz unbemerkt hatte Heidi so das Nähen erlernt.

Da Heidi nun lesen konnte, durfte es auch immer wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.

Es war die letzte Woche, die die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, damit es auf ihre Stube käme. Als Heidi mit seinem großen Buch unter dem Arm eintrat, winkte ihm die Großmama, damit es ganz nahe zu ihr herankäme. Dann legte sie das Buch weg und sagte: "Nun komm, Kind, und sage mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du noch immer denselben Kummer im Herzen?"

"Ja", nickte Heidi.

"Und betest du nun alle Tage, daß alles gut werde?" wollte die Großmama weiter wissen.

"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung fort. "Wenn nun am Abend so viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so kann der liebe Gott ja nicht auf alle achtgeben, und mich hat er gewiß gar nicht gehört."

"Ja, so geht's nicht, Heidi, das mußt du nicht denken! Siehst du, der liebe Gott ist uns allen ein guter Vater, der immer weiß,



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was für uns gut ist, wenn wir es auch selbst nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, was für uns nicht gut ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht herzlich zu ihm zu beten."

"Ich will jetzt gleich gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten und will ihn nie mehr vergessen", sagte Heidi reumütig.

"So ist's recht, Kind, er wird dir auch zur rechten Zeit helfen, sei nur getrost!" ermunterte die Großmama. Heidi lief sofort in sein Zimmer hinüber und betete ernst und reuig zum lieben Gott und bat ihn, daß er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm niederschauen möge.

Der Tag der Abreise war gekommen. Es war für Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber die Großmama wußte es so einzurichten, daß es ihnen gar nicht zum Bewußtsein kam. Es war eher wie ein Festtag, bis die gute Großmama im Wagen davonfuhr. Dann trat eine Leere und Stille im Hause ein, als wäre alles vorüber. Den ganzen Tag noch saßen Klara und Heidi wie verloren da.

Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und es um die Zeit war, wo die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer vorlesen. Willst du, Klara?" Klara war dieser Vorschlag recht, und Heidi machte sich mit Eifer an seine Tätigkeit.

So waren Herbst und Winter vergangen. Schon schien die Sonne wieder so stark auf die Mauern am Haus gegenüber, daß Heidi ahnte, nun war die Zeit gekommen, wo der Peter wieder mit den Geißen zur Alm zog. Heidi setzte sich in sei' em einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, damit es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht sah. So saß es regungslos und kämpfte sein brennendes Heimweh lautlos nieder.

Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens schweigend und in sich gekehrt im Hause herum. Wenn sie in



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der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen Korridor ging, sah sie sich öfters um, als könnte jemand leise hinter ihr herkommen und sie plötzlich am Kleid zupfen. Allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen herum.

Tinette machte es ihrerseits genauso. Hatte sie oben oder unten irgend etwas zu tun, so rief sie Sebastian herbei und sagte ihm, er solle sie begleiten. Seltsamerweise tat auch Sebastian genau dasselbe. Wurde er in die abgelegenen Räume geschickt, so holte er Johann herauf.

Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas Seltsames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam, stand die Haustür weit offen. Es war aber weit und breit niemand zu sehen. In den ersten Tagen, als dies geschah, wurden gleich voller Schreck alle Zimmer des Hauses durchsucht. Aber es fehlte im ganzen Haus nicht ein einziges Ding.

Abends wurde nicht nur die Tür doppelt zugeriegelt, sondern es wurde auch noch der hölzerne Balken vorgeschoben. Es half nichts. Am Morgen stand die Tür weit offen. Endlich faßten sich Johann und Sebastian ein Herz und erklärten sich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer neben der Diele zuzubringen. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen von Herrn Sesemann hervor und übergab Sebastian eine große Likörflasche zur Stärkung.

Die beiden nahmen an dem festgesetzten Abend in dem Zimmer Platz und fingen gleich an, sich Mut anzutrinken. Das machte sie erst gesprächig und dann auch ziemlich schläfrig. Danach lehnten sie sich beide an den Sesselrücken und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an. Der war aber nicht leicht zu wecken, und sooft ihn Sebastian anrief, legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere und schlief weiter. Endlich, als es droben ein Uhr geschlagen hatte, war Johann wach geworden und wieder zu klarem Bewußtsein



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gekommen. Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal hinaus und sehen, wie's steht!"

Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein scharfer Luftzug und löschte das Licht aus, das Johann in der Hand hielt. Der stürzte zurück und warf den hinter ihm stehenden Sebastian beinahe rückwärts ins Zimmer hinein. Er schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüssel um.

"Was ist denn? Was war denn draußen?" fragte Sebastian teilnehmend.

"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf -husch und verschwunden."

Sobald Fräulein Rottenmeier gehört hatte, was vorgefallen war, schrieb sie sofort ausführlich Herrn Sesemann. Sie fügte



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hinzu, die unheimlichen Vorgänge im Hause hätten den zarten Gesundheitszustand seiner Tochter derart erschüttert, daß die schlimmsten Folgen zu befürchten seien.

Zwei Tage später stand Herr Sesemann vor seiner Tür und schellte derart an der Hausglocke, daß alles zusammenlief. Sebastian stürzte die Treppe hinunter und riß die Haustür auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg sofort zum Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert sah, glättete sich seine Stirn.

"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?" fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den Mundwinkeln.

"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein Scherz. Ich zweifle nicht daran, daß Herr Sesemann morgen nicht mehr lachen wird."

"Rufen Sie mir Sebastian ins Eßzimmer, ich will allein mit ihm reden", sagte Herr Sesemann. Sebastian erschien. Es war Herrn Sesemann nicht entgangen, daß Sebastian und Fräulein Rottenmeier sich nicht gerade mit Zuneigung betrachteten. So hatte er seine eigenen Gedanken.

"Komm her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und sage mir nun ganz ehrlich: Hast du etwa selbst ein wenig Gespenst gespielt, um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?"

"Nein, das dürfen Sie nicht glauben. Es ist mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete Sebastian.

"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen dir und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster bei Licht aussehen. Schäme dich, Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie du bist, vor Gespenstern davonzulaufen. Nun geh sofort zu meinem alten Freund Doktor Claasen. Er möchte bestimmt heute abend um neun Uhr bei mir erscheinen. Ich wäre eigens von Paris hergereist, um ihn um Rat zu bitten. Er müsse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er solle sich danach richten!"



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Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen waren und auch Fräulein Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor. Unter seinen grauen Haaren zeigte sich ein recht frisches Gesicht mit zwei lebhaft und freundlich blickenden Augen. Er sah etwas ängstlich aus, brach aber sogleich nach der Begrüßung in ein helles Lachen aus und sagte, seinem Freund auf die Schulter klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du leidlich aus, Alter."

Herr Sesemann erzählte nun seinem Freund den ganzen Vorgang und daß nach Angabe sämtlicher Hausbewohner noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde. Er fügte hinzu, für alle Fälle habe er zwei geladene Revolver in das Wachlokal legen lassen.

Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo auch Johann und Sebastian gewacht hatten. Auf dem Tisch standen einige Flaschen guten Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden mußte.

Die Tür wurde angelehnt, dann setzten sich die Herren gemütlich in ihre Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, und nahmen auch dann und wann einen guten Schluck dazwischen. So schlug es zwölf Uhr, ehe sie sieh's versahen.

"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heute gar nicht", sagte der Doktor jetzt. Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war es völlig still, auch auf den Straßen war der Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger hoch.

"Pst! Sesemann, hörst du nichts?"

Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloß umgedreht und die Tür geöffnet wurde. Der Hausherr fuhr mit der Hand nach seinem Revolver.

"Vorsicht ist besser", flüsterte Herr Sesemann, faßte mit der Linken den Leuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den



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Revolver und folgte dem Doktor, der, ebenfalls mit Leuchter und Revolver versehen, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus.

Durch die weitgeöffnete Tür floß ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine zarte Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.

"Wer da?" donnerte jetzt der Doktor heraus, so daß es durch den ganzen Korridor hallte. Die Gestalt kehrte sich um und tat einen leichten Schrei. Mit bloßen Füßen und im dünnen Nachthemd stand Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte von oben bis unten wie Espenlaub.

"Kind, was soll das heißen?" fragte Herr Sesemann. "Was wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"

Schneeweiß vor Schreck stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos. "Ich weiß nicht."

Jetzt trat der Doktor vor. "Sesemann, der Fall gehört in mein Gebiet. Geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl, ich will vor allem das Kind dahin bringen, wo es hingehört."

Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm auf die Treppe zu. In Heidis Zimmer nahm der Doktor Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war, nahm das Kind bei der Hand und sagte: "So, nun ist alles in Ordnung. Nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?"

"Ich wollte gewiß nirgends hin", versicherte Heidi. "Jede Nacht träume ich immer dasselbe. Dann meine ich, ich wäre beim Großvater, und draußen höre ich's in den Tannen sausen und denke, jetzt glitzern die Sterne am Himmel so schön, und ich laufe geschwind und mache die Tür der Hütte auf. Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt."

"Hrn, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"

"Immer auf der Alm", antwortete Heidi schluchzend.



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Der Doktor stand auf. Er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte: "So, noch ein wenig weinen, das kann nicht schaden, und dann schlafen. Morgen wird alles gut."

Dann verließ er das Zimmer. Unten in der Wach stube ließ er sich dem wartenden Freund gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem gespannt Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig. Völlig unbewußt hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft den Schreck ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so daß es schon jetzt fast zum Gerippe abgemagert ist. Darum also schnelle Hilfe! Für das erste Übel gibt es nur ein Heilmittel, nämlich, daß du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückversetzt. Für das zweite gibt's ebenfalls nur eine Medizin, nämlich genau dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept."

Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Erregung lief er im Zimmer auf und ab. Jetzt rief er aus: "Mondsüchtig! Krank! Heimweh! Das alles in meinem Hause, und niemand merkt etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schickte ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach es heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will. Aber erst hilf du!"

"Sesemann", entgegnete der Doktor ernst, "bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pillen heut. Das Kind hat keine zähe Natur, jedoch, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht - du willst doch nicht, daß das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht mehr zurückkommt?"

Herr Sesemann war erschrocken stehengeblieben. "Ja, wenn du so redest, Doktor, dann gibt es nur den e in e n Weg, dann muß sofort gehandelt werden."



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Am Sommerabend die Alm hinan

Herr Sesemann stieg, nachdem der Doktor das Haus im Morgengrauen verlassen hatte, in großer Erregung hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er ungewöhnlich kräftig an die Tür. Fräulein Rottenmeier sah auf ihre Uhr. Es war halb fünf Uhr. Was konnte nur vorgefallen sein?

Inzwischen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und weckte die Dienstboten. So kamen sie nach und nach und stellten sich voller Erstaunen vor Herrn Sesemann hin. Der ging frisch und munter im Eßzimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt.

Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde und Wagen vorzuführen. Tinette sollte sogleich Heidi aufwecken und es für eine Reise fertig machen. Sebastian erhielt den Auftrag, in das Haus zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand, und sie herzuholen. Fräulein Rottenmeier erklärte er, sie habe ohne Zögern einen Koffer herbeizuschaffen, sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken, dazu noch einen guten Teil von Klaras Kleidern, damit das Kind was Rechtes mitbrächte. Es müsse alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen.

Herr Sesemann ging zum Zimmer seiner Tochter, setzte sich an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung. Nach des Doktors Aussage sei Heidi sehr angegriffen. Es werde wohl nach und nach seine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken. Klara müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, daß es nicht anders sein könne.



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Klara war von der Mitteilung schmerzlich überrascht und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts. Der Vater blieb fest bei seinem Entschluß, versprach aber, im nächsten Jahr mit Klara in die Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche.

Inzwischen war Dete angelangt und stand voller Erwartung im Vorzimmer. Daß sie um diese ungewöhnliche Zeit gerufen worden war, mußte etwas Außergewöhnliches bedeuten. Herr Sesemann erklärte ihr, sie möge das Kind gleich heute noch nach Hause bringen. Diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht gut der Worte, die ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte: daß sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle. Dem Alten einmal das Kind bringen, dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht geraten zu sein.

Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reise anzutreten. Morgen könne sie noch weniger daran denken. Herr Sesemann verstand die Sprache und entließ die Base.

Nun ließ er Sebastian kommen und erklärte ihm, er habe sich sofort zur Reise zu rüsten. Heute habe er mit dem Kind bis Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder umkehren. Auszurichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater werde diesem alles erklären.

Mittlerweile stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntags röckchen und wartete ab, was geschehen sollte. Dann wurde es gerufen.

"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun, heute gehst du heim, jetzt gleich."

"Heim?" wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß. Für eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen.

"Nun, willst du etwa nichts davon wissen?" fragte Herr Sesemann lächelnd.

"0 ja, ich will schon", kam es jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden.



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"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd. "Und nun tüchtig gefrühstückt und dann in den Wagen und fort!"

Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterkriegen, so sehr es sich auch zwingen wollte. Es war derart aufgeregt, daß es gar nicht wußte, ob es wache oder träume und vielleicht wieder aufwachen und im Nachthemd an der Haustür stehen werde.

"Geh zu Klara hinüber, bis der Wagen vorfahrt", sagte Herr Sesemann dann freundlich. Das war auch Heidis Wunsch, und es lief hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein großer Koffer zu sehen, dessen Deckel noch offen stand.

"Komm, Heidi, komm!" rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"

Und sie nannte ihm eine ganze Menge Dinge: Kleider und Schürzen, Tücher und Nähzeug. "Sieh hier, Heidi!" Klara hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und sprang vor Freude hoch, denn darin lagen zwölf schöne weiße Brötchen, alle für die Großmutter.

Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, daß nun der Augenblick kam, wo sie sich trennen mußten. Als dann plötzlich der Ruf erschallte: "Der Wagen ist bereit!", war gar keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer. Da mußte noch ein schönes Buch von der Großmama liegen. Das konnte niemand eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi sich Tag und Nacht nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.

Die beiden Kinder mußten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi in den Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um Heidi zu verabschieden.

Schließlich wurde das Kind in den Wagen gehoben, und der Korb, die Brottasche und Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte davon.

Bald danach saß Heidi im Zug, und hielt seinen Korb auf dem Schoß fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den



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Händen lassen. Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und es erwachte erst wieder, als Sebastian es tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Aufwachen! Aufwachen! Gleich aussteigen, wir sind in Basel angekommen!"

Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis Sebastian geben wollte. Heute sagte es nun gar nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung größer. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: "Mayenfeld!"

Jetzt standen sie draußen, und Sebastian schaute sich um, wen er etwa nach dem Weg zum ,Dörfli"fragen könnte. Nicht weit vom Bahnhof stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rößlein davor, auf den lud ein breitschultriger Mann ein paar große Säcke auf. Sebastian trat zu ihm und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Dörfli vor.

"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort. Endlich kamen die beiden überein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen. Vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgend jemand auf die Alm geschickt werden.

"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die Alm", sagte Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und überreichte ihm eine schwere Rolle und einen Brief an den Großvater, mit eindringlichen Ermahnungen, ja nichts zu verlieren.

Nun wurde der Koffer aufgeladen, und danach hob Sebastian Heidi mit seinem Korb auf den hohen Sitz empor. Der Fahrer schwang sich neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu. Sebastian setzte sich am Bahnhäuschen nieder, um den zurückgehenden Zug abzuwarten.

Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker aus dem Dörfli, der seine Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie ge



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sehen, wußte aber, wie jedermann im Dörfli, von dem Kind. Als sie ins Dörfli einfuhren, schlug die Glocke eben fünf Uhr. Sofort sammelte sich eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt dann schon den Koffer", und wollte davonlaufen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und alle fragten es auf einmal.

Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte. Es hatte nur noch einen Gedanken: Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen am Spinnrad in der Ecke sitzen? Jetzt erblickte Heidi die Hütte und rannte noch mehr, und immer lauter schlug ihm das Herz. Vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen - und sprang bis mitten in die kleine Stube



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hinein und stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.

"Ach, du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es doch noch einmal im Leben bei mir haben könnte! Wer ist hereingekommen?"

"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja!" rief Heidi jetzt und stürzte in die Ecke und gleich zu der Großmutter hin. Es faßte ihren Arm und ihre Hände und schmiegte sich an sie und konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter so überrascht, daß sie auch kein Wort hervorbringen konnte. Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi, bist du auch bestimmt wieder da?"

"Ja, ja, sicher, Großmutter!" rief Heidi nun mit aller Zuversicht. "Weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort. Jetzt brauchst du auch viele Tage kein hartes Brot mehr zu essen."

Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem anderen aus, bis es alle zwölf im Schoß der Großmutter aufgehäuft hatte.

Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick vor Erstaunen unbeweglich stehen. Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und Brigitte konnte sich gar nicht genug wundern. Dann faßte Heidi die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muß ich heim, aber morgen komm' ich wieder zu dir. Gute Nacht, Großmutter!"

Dann rannte Heidi den Berg hinauf. Es dauerte gar nicht lange, bis es oben die Tann wipfel über dem Dach erblickte und bald die ganze Hütte. Auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein Pfeifchen. Da rannte Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Öhi recht sehen konnte, was da herankam, stürzte das Kind schon auf ihn zu, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten. Vor lauter Aufregung des Wiedersehens konnte es nichts sagen als nur immer wieder: "Großvater! Großvater! Großvater!"



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Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erstenmal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüberfahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. "So bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er. "Haben sie dich fortgeschickt?"

"0 nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das mußt du nicht denken, sie waren ja alle so gut, die Klara und die Großmama und der Herr Sesemann. Aber ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein konnte. Und dann rief mich auf einmal Herr Sesemann an einem Morgen ganz früh - aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran -, es steht vielleicht alles in dem Brief." Heidi holte den Brief und die Rolle aus dem Korb herbei und legte beides in die Hand des Großvaters.

"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch. Ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.

"Meinst du, du könntest auch noch mit mir Milch trinken, Heidi?" fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm und in die Hütte eintrat. "Aber nimm dort dein Geld mit dir. Davon kannst du ein ganzes Bett kaufen und Kleider für ein paar Jahre."

"Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater", versicherte Heidi. "Ein Bett habe ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt."

"Nimm's und leg's in den Schrank, wirst's schon einmal brauchen können."

Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf - aber da stand es plötzlich still und rief ganz traurig von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein Bett mehr!"

"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wußte ja nicht, daß du wieder heimkommst. Jetzt trink deine Milch!"



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Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen Stuhl. Dann nahm es sein Schüsselchen und trank mit einer Begierde, als hätte es etwas so Köstliches noch nie getrunken.

Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff, und wie der Blitz schoß Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend und springend von der Höhe herunter, mitten darin Peter. Als er Heidi erblickte, blieb er wie angewurzelt auf der Stelle stehen und starrte es sprachlos an.

Heidi rief: "Guten Abend, Peter!" und stürzte mitten in die Geißen hinein. "Schwänli, Bärli, kennt ihr mich noch?"

Die Geißen mußten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie neben ihre Köpfe an Heidi und fingen vor lauter Freude zu meckern an. Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran.

"Bist du denn wieder da?" brachte Peter heraus. Er nahm Heidis Hand, die es ihm schon lange hingehalten hatte, und dann fragte er: "Kommst morgen wieder mit?"

"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muß ich zur Großmutter."

Als das Kind dann in die Hütte zurückkam, war sein Bett schon wieder aufgeschichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch frisch. Darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr nicht geschlafen hatte.

Während der Nacht verließ der Großvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde. Er schaute in das Loch, durch das sonst der Mond auf Heidis Lager schien, ob auch das Heu noch fest drinnen säße, das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hineinkommen. Aber Heidi schlief fest durch und wanderte keinen Schritt herum, denn sein großes brennendes Verlangen war gestillt worden.



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Am Sonntag, wenn's läutet

Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während es bei der Großmutter blieb. Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"

Und nun mußte die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt hatten. Sie sagte, sie habe sich daran so gelabt, daß sie meine, sie sei heute viel kräftiger als sonst.

"Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte darauf Heidi in freudigem Eifer. "Ich schreibe Klara einen Brief, und dann schickt sie mir gewiß noch einmal soviel Brötchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen davon im Kasten. Das tut sie gewiß."

"Ach Gott", sagte Brigitte, "das ist eine gute Absicht, aber bedenke, sie werden doch auch hart. Wenn man nur hier und da ein bißchen Geld übrig hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche. Ich kann aber kaum das schwarze Brot bezahlen."

Jetzt schoß ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht. "Oh, ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter! Jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle Tage mußt du ein neues Brötchen haben und am Sonntag zwei, und der Peter kann sie vom Dörfli heraufbringen."

Heidi jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein übers andere Mal: "Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz kräftig."

Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel Heidi auf einmal das 6 Heidi! 81



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alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer Gedanke. "Großmutter, jetzt kann ich auch lesen. Soll ich dir ein Lied aus deinem alten Buch vorlesen?"

Heidi blätterte und las hier und da einen Satz, um ein schönes Lied herauszusuchen.

"Jetzt kommt etwas von der goldenen Sonne, das will ich dir vorlesen, Großmutter." Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger, während es las.

Die Großmutter saß still mit gefalteten Händen da. Ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obwohl ihr die Tränen die Wangen herab liefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch einmal, Heidi, laß es mich noch einmal hören."

Plötzlich klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne der Großmutter zu versprechen, daß es morgen wiederkäme. Selbst wenn es mit Peter auf die Weide ginge, so käme es doch nachmittags zurück.

Heidi war so erfüllt von seinen Erlebnissen, daß es gleich dem Großvater alles erzählen mußte, was sein Herz erfreute.

"Gelt, Großvater, wenn die Großmutter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, damit ich dem Peter jeden Tag ein Geldstück für ein Brötchen geben kann und am Sonntag für zwei?"

"Aber das Bett, Heidi?" sagte der Großvater. "Ein rechtes Bett wäre für dich gut, und dann bleibt auch noch für manches Brötchen etwas übrig."

Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und behauptete, daß es auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe. Es bat so eindringlich und unablässig, daß der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist dein, mach, was dich freut. Du kannst der Großmutter dafür manches Jahr lang Brötchen holen."

Heidi jauchzte auf: "0 juchhe! Nun ist doch alles so schön wie noch nie!"



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Aber auf einmal wurde es ganz ernst und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hätte, worum ich so stark gebetet habe, dann wäre doch alles nicht so geworden. Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama es sagte, und dem lieben Gott immer danken. Und wenn er etwas nicht tut, worum ich bitte, so will ich gleich denken: Es geht gewiß wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt sich gewiß etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen nun auch alle Tage beten, gelt, Großvater, damit der liebe Gott uns auch nicht vergißt."

"Und wenn's einer doch nicht täte?" murmelte der Großvater.

"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergißt ihn dann doch und läßt ihn ganz laufen."

"Das ist wahr, Heidi, woher weißt dn das?"

"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."

Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist, dann ist's so. Zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen."

"0 nein, Großvater, zurück kann man, das weiß ich auch von der Großmama. Dann ist es so wie in der schönen Geschichte in meinem Buch, doch die kennst du noch nicht."

Heidi strebte in seinem Eifer rasch die letzte Steigung hinan - und kaum waren sie oben angelangt, als es des Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater setzte sich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein großes Buch unter dem Arm. Mit einem Satz war es an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen.

Jetzt las Heidi mit großem Mitleid von dem verlorenen Sohn, der reumütig heimkehrt ins Vaterhaus.

"Ist das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?" fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß, während es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und wundern.

"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber sein Gesicht war so ernst, daß Heidi ganz still wurde.



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Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlaf lag, stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf und stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so daß das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der den Großvater rühren mußte, denn lange, lange stand er da und wandte kein Auge von dem schlafenden Kind. Dann faltete auch er die Hände und betete. Und ein paar große Tränen rollten ihm die Wangen herab.

In der ersten Frühe des Tages stand der Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen sangen die Vögel ihre Morgenlieder.

Der Großvater trat in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!" rief er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Röcklein an, wir wollen miteinander in die Kirche!"

Heidi brauchte nicht lange. Das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater, dem mußte es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und schaute ihn an. "Oh, Großvater, so hab' ich dich nie gesehen!" sagte es endlich. "Den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du noch gar nicht getragen, oh, wie siehst du schön aus in deinem prächtigen Sonntagsrock!"

Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben an zu singen, als der Großvater mit Heidi eintrat und sich ganz hinten auf die letzte Bank niedersetzte. Mitten im Singen flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-Öhi!" Es war, als sei ihnen allen eine große Freude widerfahren.

Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi mit dem Kind an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu. Alle schauten ihm nach und besprachen in großer Aufregung das



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Unerhörte, daß der Alm-Öhi in der Kirche erschienen war. Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so schlimm sein, wie man tut. Man braucht ja nur zu sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand hält."

Der Alm-Öhi war inzwischen an die Tür der Studierstube getreten und hatte angeklopft. Der Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein können, sondern so, als habe er ihn erwartet. Er ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit größter Herzlichkeit.

Der Alm-Öhi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf einen so herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Dann faßte er sich und sagte: "Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, die Worte zu vergessen, die ich zu ihm auf der Alm gesagt habe. Der Herr Pfarrer hat ja in allem recht gehabt, und ich war im Unrecht. Jetzt will ich aber seinem Rat folgen und zum Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen. Die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist zu zart."

Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und sagte mit Rührung: "Nachbar, Sie sind in ddr rechten Kirche gewesen, noch ehe Sie in die meinige herunter kamen. Darüber freue ich mich! Und daß Sie wieder mit uns leben wollen, soll Sie nicht gereuen."

Und der Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis Krauskopf, nahm es bei der Hand und führte es hinaus, als er den Großvater fortbegleitete. Erst draußen vor der Haustür nahm er Abschied, und nun konnten die Herumstehenden sehen, wie der Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch einmal schüttelte, gerade als wäre er sein bester Freund.

Kaum hatte sich dann die Tür hinter dem Pfarrer geschlossen, als die ganze Versammlung dem Alm-Öhi entgegendrängte. Jeder wollte der erste sein, und so viele Hände wurden dem Herankommenden entgegengestreckt, daß er gar nicht wußte,



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welche er zuerst ergreifen sollte. Noch weit die Alm hinauf wurden Großvater und Kind von den meisten begleitet. Als nun die Leute den Berg hinab zurückgingen, blieb der Alte stehen und blickte ihnen lange nach. Auf seinem Gesicht lag ein so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. "Großvater, heute wirst du immer schöner", sagte Heidi.

"Meinst du?" Der Großvater lächelte. "Ja, siehst du, Heidi, mir geht's auch heute über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und Menschen im Frieden sein, das tut einem so wohl! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, daß er dich auf die Alm schickte!"

Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter!" rief er. f



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"Du mein Gott, das ist der Öhi!" rief die Großmutter in freudiger Überraschung aus. "Daß ich das noch erlebe! Daß ich dir noch einmal für alles danken kann, was du für uns getan hast, Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"

Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort: "Und eine Bitte hab' ich noch auf dem Herzen, Öhi. Laß das Heidi nicht noch einmal fort, bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, du weißt nicht, was mir das Kind ist."

"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte sie der Öhi, "jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so."

Jetzt zog Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schöne Federhütchen, das ihr Heidi geschenkt hatte. "Was aber auch unser Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal daran gedacht, ob ich nicht den Peter auch ein wenig nach Frankfurt schicken soll; was meinst du, Öhi?"

Dem Öhi blitzte es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte Peter nichts schaden, aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.

Da fuhr Peter eben zur Tür herein, und atemlos keuchend stand er nun mitten in der Stube und hielt einen Brief hin. Das war gleichfalls ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war. Ein Brief mit einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli übergeben hatte. Voller Erwartung setzten sich alle um den Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne zu stocken vor.

Den Brief hatte Klara Sesemann geschrieben. Sie erzählte Heidi, daß es seit seiner Abreise so langweilig in ihrem Haus geworden sei und sie es nicht mehr aushalten könne. Sie habe den Vater so lange gebeten, bis er die Reise nach Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgesetzt habe. Die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wollten ebenfalls Heidi und den Großvater auf der Alm besuchen. Und weiter lasse die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe recht daran getan,



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daß es der alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen. Damit sie diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst auf die Alm käme, so müsse Heidi sie natürlich zur Großmutter führen.

Das gab nun eine solche Freude und Verwunderung und so viel zu reden und zu fragen, daß selbst der Großvater nicht merkte, wie spät es schon war. So vergnügt und fröhlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und in der Freude über das heutige Zusammensein, daß die Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt. Das senkt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, daß wir einmal alles wiederfinden, was uns lieb ist. Du kommst doch bald wieder, Öhi, und das Kind morgen schon?"

Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen. Aber nun war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinan. Und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhütte, die ihnen ganz sonntäglich im Abendschimmer entgegenglänzte.

Wenn aber die Großmama im Herbst kommt, dann gibt es gewiß manche neue Freude und Überraschung für Heidi und auch für die Großmutter. Sicher kommt auch noch ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die gewünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach innen.



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Inhalts Verz. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat

Reisevorbereitungen 91

Ein Gast auf der Alm 95

Eine Vergeltung 102

Der Winter im Dörfli io8

Die fernen Freunde regen sich 120

Wie es auf der Alm weitergeht 132

Es geschieht, was keiner erwartet hat 138

Es wird Abschied genommen,

aber auf Wiedersehen 149



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Reisevorbereitungen

Der freundliche Doktor, der veranlaßt hatte, daß das Kind Heidi wieder in seine Heimat zurückgebracht wurde, ging eben durch die Breite Straße in Frankfurt dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, daß man hätte denken können, alle Menschen müßten sich darüber freuen. Aber der Doktor schaute auf die weißen Steine zu seinen Füßen, so daß er den blauen Himmel über sich nicht einmal sah. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesicht, die man nie vorher bei ihm gesehen hatte, und seine Haare waren seit dem Frühjahr noch grauer geworden. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau zusammengelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Doktor nie mehr so recht fröhlich.

Auf sein Klingeln öffnete Sebastian mit großer Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte gleich eine tiefe Verbeugung. Der Doktor war nicht nur der beste Freund des Hausherrn und dessen Töchterchens, sondern hatte sich, wie überall, durch seine Freundlichkeit sämtliche Hausbewohner zu guten Freunden gemacht.

"Gut, daß du kommst, Doktor", rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. "Wir müssen noch einmal die Schweizer Reise besprechen, ich muß von dir hören, ob du unter allen Umständen bei deinem Wort bleibst."

"Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?" entgegnete der Angekommene, indem er sich zu seinem Freund setzte. "Mit dir ist ja kein Fertigwerden. Du läßt mich heute



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zum drittenmal zu dir kommen, damit ich dir immer noch einmal dasselbe sage."

"Ja, du hast recht, die Sache muß dich ungeduldig machen. Du mußt aber doch begreifen, lieber Freund, es wird mir gar zu schwer, dem Kind zu versagen, was ich ihm so bestimmt versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, daß die Schweizer Reise nahe sei und es seine Freundin Heidi auf der Alp besuchen könne. Nun soll ich dem guten Kind, das ja sonst so vieles entbehren muß, die langgenährte Hoffnung mit einmal wieder durchstreichen -das ist mir fast unmöglich."

"Sesemann, das muß sein", sagte der Doktor sehr bestimmt, und als sein Freund still und niedergeschlagen dasaß, fuhr er nach einer Weile fort: "Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit einem Jahr keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war. Von einer so großen Reise kann gar keine Rede sein, ohne daß wir die schlimmsten Folgen zu befürchten hätten. Dazu sind wir nun im September, da kann es ja noch oben auf der Alp schön sein, es kann aber auch schon sehr kühl werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein!

Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernünftiges Mädchen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz fahren; dort soll eine längere Badekur unternommen werden, so lange, bis es oben auf der Alp warm wird. Dann kann sie von Zeit zu Zeit dort hinaufgetragen werden und wird - erfrischt und gestärkt durch die Badekur - diese Bergpartien ganz anders genießen können als jetzt."

Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. "Doktor, ich habe einen Gedanken. Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du mußt ein wenig aus dir heraus, und weißt du, wie? Du sollst das Kind Heidi in unser aller Namen besuchen."

Der Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlag und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann ließ ihm



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keine Zeit dazu. Er war so erfreut und erfüllt von seiner neuen Idee, daß er den Freund zum Zimmer seiner Tochter zog.

Der gute Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er wußte ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzählen. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei der Hand faßte, fing er an von der Schweizer Reise zu reden, und wie sehr er sich selbst darauf gefreut hätte. Über den Hauptpunkt aber, daß sie nun unmöglich stattfinden könne, glitt er eilig hinweg, denn er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging er schnell auf den neuen Plan über und schilderte Klara, wie heilsam es für ihren guten Freund wäre, wenn er diese Reise unternehmen würde.

Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich Klara auch Mühe gab, sie niederzudrücken, denn sie wußte, wie ungern der Papa sie weinen sah. Sie schluckte ihre Tränen hinunter, nahm die Hand ihres guten Freundes und bat flehentlich:

"0 bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzählen. Wie es dort oben aussieht und was Heidi und der Großvater machen und der Peter mit den Geißen; ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken will, ich habe schon alles ausgedacht, auch für die Großmutter etwas. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch bestimmt inzwischen Lebertran nehmen, soviel Sie nur wollen."

Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Doktor lächelte und sagte:

"Dann muß ich ja wohl gehen, Klärchen. Und wann muß ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?" "Am liebsten gleich morgen früh", entgegnete Klara. "Ja, sie hat recht", fiel der Vater ein; "die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren. Um jeden solchen



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Tag ist es schade, den du noch nicht auf der Alp genießen kannst."

Klara hielt ihn fest; erst mußte sie ihm ja noch alle Aufträge an Heidi übergeben und ihm noch so vieles ans Herz legen, was er recht betrachten und ihr dann schreiben sollte. Die Sendung an Heidi konnte ihm erst später zugeschickt werden, denn Fräulein Rottenmeier mußte erst alles verpacken helfen.

Klara dachte, daß sie erst einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier zu bestehen hätte, bevor diese die Zustimmung zum Absenden all der Sachen gäbe, die sie für Heidi bestimmt hatte. Aber dieses Mal hatte sie sich getäuscht: Fräulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sie räumte gleich alles weg, was auf dem großen Tisch lag, um all die Dinge, die Klara zusammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen zu verpacken.

Erst kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für Heidi ausgesucht hatte, damit es im kommenden Winter die Großmutter besuchen könnte. Dann kam ein dickes, warmes Tuch für die alte Großmutter, damit sie nicht mehr zu frieren brauchte. Dann kam die große Schachtel mit dem Kuchen; die war auch für die Großmutter bestimmt. Es folgte eine große Wurst, die hatte Klara ursprünglich für Peter bestimmt, weil er doch nie etwas anderes als Käse und Brot bekam. Aber sie hatte sich jetzt anders besonnen, denn sie fürchtete, Peter könnte vor Freude die ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte diese bekommen und erst für sich und die Großmutter ein gutes Stück davon abschneiden. Jetzt kam noch ein Säckchen Tabak; das war für den Großvater, der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hütte saß.

Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Säckchen, Päckchen und Schächtelchen, die Klara mit besonderer Freude zusammengekramt hatte, denn da sollte Heidi allerhand Überraschungen finden. Endlich war das Werk beendet, und ein stattlicher Packen lag reisefertig auf der Erde.



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Ein Gast,, auf der Alm

Das Frührot glühte über den Bergen, und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen. Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es geweckt. Es schoß von seinem Lager auf und hatte kaum Zeit, sich fertigzumachen. Eilig sprang es hinaus. Draußen vor der Tür stand der Großvater und schaute nach allen Seiten in den Himmel, wie er es jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte.

"0 wie schön! O wie schön! Guten Morgen, Großvater!" rief Heidi.

"So, sind deine Augen auch schon hell?" gab der Großvater zurück, Heidi die Hand zum Morgengruß hinhaltend. Heidi lief unter die Tannen und hüpfte vor Freude über das Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Ästen umher, und bei jedem neuen Windstoß jauchzte es vor Wonne.

Inzwischen war der Großvater zum Stall gegangen und hatte Schwänli und Bärli die Milch abgenommen; dann hatte er beide zur Bergreise schön geputzt und brachte sie nun auf den Platz heraus. Als Heidi seine Freunde erblickte, faßte es beide um den Hals und begrüßte sie zärtlich, daß sie fröhlich meckerten.

Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe von Peter ertönen, und bald kamen die Geißen alle heraufgesprungen, voran der flinke Distelfink. Gleich war Heidi wieder mitten im Rudel, und vor lauter stürmischer Begrüßung wurde es hin- und hergeschoben, und dann schob es selbst ein wenig, denn es wollte zu dem schüchternen Sehneehöppli vordringen.

Peter kam heran und tat einen fürchterlichen Pfiff, der sollte die Geißen auf scheuchen und der Weide zu jagen, denn er wollte Platz bekommen, um Heidi etwas zu sagen.



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"Du kannst wieder einmal mitkommen heute", war seine etwas störrische Anrede.

"Nein, das kann ich nicht, Peter", sagte Heidi. "Jeden Augenblick können sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muß ich daheim sein."

"Das hast du schon oft gesagt", brummte Peter.

"Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen", gab Heidi zurück.

"Sie können ja zum Öhi kommen", versetzte Peter knurrend.

Jetzt tönte von der Hütte her die kräftige Stimme des Großvaters: "Warum geht's nicht vorwärts mit der Armee? Liegt's am Feldmarschall oder an den Truppen?"

Augenblicklich machte Peter kehrt, schwang seine Rute in der Luft, daß sie sauste und alle Geißen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten.

Seit Heidi wieder daheim beim Großvater war, fiel ihm hier und da etwas ein, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es jetzt jeden Morgen mit großer Anstrengung sein Bett zurecht und strich so lange daran herum, bis es ganz glatt aus-



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sah. Dann lief es in der Hütte hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa herumlag, das kramte es alles in den Schrank hinein. Wenn dann der Großvater wieder hereinkam, blickte er wohlgefällig um sich und sagte etwa:

"Bei mir ist's jetzt immer Sonntag, Heidi ist nicht umsonst in der Fremde gewesen."

Auch heute hatte sich Heidi, als Peter fortgetrabt war und es mit dem Großvater gefrühstückt hatte, gleich an seine Arbeit gemacht, aber es wurde fast nicht fertig. Draußen war es heute morgen so schön, und alle Augenblicke geschah etwas, was das Kind in seiner Tätigkeit aufhielt. Der Großvater hatte inzwischen im Schuppen allerlei zu tun; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tür hinaus und schaute lächelnd Heidis Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als Heidi plötzlich laut aufschrie: "Großvater, Großvater! Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!"

Heidi stürzte seinem alten Freund entgegen. Dieser streckte grüßend die Hand aus. Das Kind rief voller Freude: "Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!"



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"Grüß' Gott, Heidi! Und wofür dankst du denn schon?" fragte der Doktor freundlich.

"Daß ich wieder zum Großvater heim durfte", erklärte das Kind.

Dem Doktor ging's wie Sonnenschein über das Gesicht. Diesen Empfang auf der Alm hatte er nicht erwartet. Im Gefühl seiner Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schön es um ihn war. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde ihn kaum noch kennen. Statt dessen leuchtete Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch den Arm seines guten Freundes fest.

Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Doktor das Kind bei der Hand. "Komm, Heidi", sagte er, "führe mich nun zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim bist."

Aber Heidi blieb stehen und sah verwundert den Berg hinunter. "Wo sind denn Klara und die Großmama?"

"Ja, nun muß ich dir etwas sagen, was dir so leid tun wird wie mir auch", erwiderte der Doktor. "Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Großmama nicht mit. Aber im Frühjahr, wenn die Tage wieder warm und lang werden, dann kommen sie ganz sicher."

Heidi konnte es zunächst gar nicht fassen, daß nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht sein sollte. Regungslos stand es eine Weile, von dem Unerwarteten verwirrt.

"Oh, es dauert doch gar nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann kommen sie ja bestimmt", tröstete es sich dann.

Hand in Hand mit dem guten Freund stieg es nun zu der Hütte hinauf. Für den Großvater war der Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja soviel von ihm erzählt. Der Alte streckte seinem Gast die Hand entgegen und hieß ihn mit Herzlichkeit willkommen. Dann setzten sich die Männer auf die Bank an der Hütte, auch für Heidi wurde da noch ein Plätzchen gemacht.



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Der Doktor erzählte, daß Herr Sesemann ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, da er sich seit langem nicht mehr recht frisch und rüstig fühle.

Der Großvater riet seinem Gast, nicht bis nach Ragaz zurückzukehren, sondern unten im Dörfli ein Zimmer zu nehmen. So könnte der Doktor jeden Morgen zur Alm heraufkommen, was ihm wohltun müßte, meinte der Öhi. Auch werde er dann gern den Herrn zu allerlei Aussichtspunkten führen, weiter hinauf in die Berge. Dem Doktor sagte der Vorschlag sehr zu.

Unterdessen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte sich schon lange gelegt, und die Tannen waren ganz still. Der Alm-Öhi ging in die Hütte hinein und brachte einen Tisch heraus, den er vor die Bank stellte.

"So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Essen brauchen", sagte er. "Der Herr muß nun vorliebnehmen; ist unsere Küche auch einfach, so ist das Eßzimmer doch anständig."

"Das meine ich auch", erwiderte der Doktor, indem er auf das sonnenbeleuchtete Tal hinunterschaute. "Die Einladung nehme ich an, hier oben wird es gewiß schmecken."

Heidi lief nun wie ein Wiesel hin und her und brachte herbei, was es im Schrank fand. Daß es den Doktor bewirten durfte, war ihm eine große Freude. Der Großvater bereitete inzwischen das Mahl und trat mit dem dampfenden Milchkrug und dem goldig glänzenden Käsebraten heraus. Dann schnitt er schöne, durchsichtige Schnitten von dem rosigen Fleisch herunter, das er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte.

"Ja, hierhin muß unsere Klara kommen", sagte der Doktor. "Da wird sie zu neuen Kräften kommen, und wenn sie eine Zeitlang so ißt wie ich heute, so wird sie rund und fest werden wie noch nie in ihrem Leben."

Da kam einer von unten herauf angestiegen, der hatte einen großen Ballen auf dem Rücken. Als er oben bei der Hütte ankam, warf er seine Last auf den Boden.

"Ah, da kommt das, was mit mir von Frankfurt hergereist ist", sagte der Doktor. Er trat an den Ballen und fing an, ihn



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aufzuschnüren. Als die erste schwere Hülle weg war, sagte er: "So, Kind, nun mach du weiter und hol deine Schätze selbst heraus."

Heidi schaute mit großen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Als der Doktor von einer großen Schachtel den Deckel hob und sagte: "Sieh, was die Großmutter zum Kaffee bekommt", da schrie es vor Freude auf: "Oh! Oh! Jetzt kann die Großmutter einmal schönen Kuchen essen!" Es sprang um die Schachtel herum und wollte gleich alles zusammenpacken und zur Großmutter hinunterlaufen.

Aber der Großvater sagte, gegen Abend wollten sie zusammen den Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Endlich fand Heidi auch das Säckchen Tabak und brachte es schnell dem Großvater hinüber; er füllte gleich seine Pfeife damit, und die beiden Männer sprachen nun, auf der Bank sitzend und große Rauchwolken vor sich herblasend, über allerhand Dinge.



***
Als die Sonne bald hinter die Berge hinabsteigen wollte, stand der Gast auf, um den Rückweg zum Dörfli anzutreten und dort Quartier zu nehmen. Der Großvater packte die Kuchenschachtel, die große Wurst und das Tuch unter den Arm, und der Doktor nahm Heidi an die Hand. So wanderten sie den Berg hinunter bis zur Geißenpeter-Hütte. Hier mußte Heidi Abschied nehmen; es sollte drinnen bei der Großmutter warten, bis es vom Großvater wieder abgeholt werde, der seinen Gast zum Dörfli begleiten wollte. Als der Doktor Heidi die Hand zum Abschied bot, fragte es: "Wollen Sie vielleicht morgen gern mit den Geißen auf die Weide hinaufgehen?" Denn das war das Schönste, was es kannte.

"Es bleibt dabei, Heidi", erwiderte er, "wir gehen zusammen."

Die Männer schritten weiter, und Heidi trat bei der Großmutter ein. Erst schleppte es mit Anstrengung die Kuchenschachtel mit, dann mußte es wieder hinaus, um die Wurst und 4s große Tuch zu holen.



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"Es ist alles aus Frankfurt, von Klara und der Großmama", berichtete es der erstaunten Großmutter und der verwunderten Brigitte.

"Aber gelt, Großmutter, die Kuchen freuen dich sehr? Sieh nur, wie weich sie sind!" rief Heidi immer wieder, und die Großmutter bestätigte: "Ja, ja, gewiß, Heidi, was sind das auch für gute Leute!" Dann strich sie wieder mit der Hand über das warme Tuch und sagte: "Aber das ist etwas Herrliches für den kalten Winter!"

Jetzt kam Peter hereingestolpert. "Der Alm-Öhi kommt hinter mir drein, das Heidi soll -"

Er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte ihn so überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber Heidi hatte schon gemerkt, was kommen sollte, und gab der Großmutter schnell die Hand. Der Alm-Öhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne schnell einzutreten. Doch heute war es für Heidi zu spät geworden. So rief er durch die Tür der Großmutter nur eine "Gute Nacht" zu und nahm das heran springende Heidi bei der Hand.



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Eine Vergeltung

Am andern Morgen in der Frühe stieg der Doktor mit Peter und seinen Geißen den Berg hinauf. Der freundliche Herr versuchte ein paarmal, mit dem Jungen ein Gespräch anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht. Kaum, daß er als Antwort auf seine Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu hören bekam. Der Peter ließ sich so leicht nicht in ein Gespräch ein. So wanderte die ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhütte, wo schon Heidi mit seinen beiden Geißen erwartungsvoll stand.

"Kommst mit?"fragte Peter wie jeden Morgen.

"Freilich, wenn der Herr Doktor mitkommt", gab Heidi zurück. Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an.

Jetzt trat der Großvater herzu, das Mittagsbrotsäckchen in der Hand. Erst begrüßte erden Herrn sehr höflich, dann trat er zum Peter und hängte ihm das Säckchen um.

Es war schwerer als sonst, denn der Öhi hatte ein schönes Stück Fleisch hineingelegt. Peter lächelte fast von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, daß da drinnen etwas Ungewöhnliches versteckt sei.

Dann wurde die Bergfahrt angetreten. Heidi wurde von den Geißen umringt, jede wollte dicht bei ihm sein, und eine schob die andere immer ein wenig seitwärts. So wurde es eine Zeitlang mitten in dem Rudel mit fortgeschoben. Es arbeitete sich aus dem Rudel heraus und ging neben dem Doktor her, der es gleich bei der Hand faßte. Er brauchte jetzt nicht wie vorher mit Mühe ein Gespräch zu suchen, denn Heidi hatte ihm viel zu erzählen von den Geißen, den Blumen und den Felsen.

Peter hatte beim Hinaufgehen öfter seitwärts auf den Doktor Blicke geworfen, die diesem einen rechten Schrecken hätten



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beibringen können. Er sah sie aber glücklicherweise nicht. Oben angelangt, führte Heidi seinen guten Freund gleich an die schönste Stelle. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag über den Höhen und dem weiten grünen Tal.

Heidis Augen funkelten vo- Wonne. Der Doktor hatte bis jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Als er nun den freudeglänzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er: "Ja, Heidi, es könnte schön hier sein. Aber wenn einer ein trauriges Herz mitbringt, wie müßte er es wohl machen, daß er sich auch an all dem Schönen freuen könnte?"

"Oh, oh!" rief Heidi fröhlich aus, "hier hat man nie ein trauriges Herz, nur in Frankfurt."

Der Doktor lächelte ein wenig, dann sagte er wieder: "Und wenn einer käme und alles Traurige aus Frankfurt mit hier heraufbrächte, weißt du auch noch etwas, was ihm helfen könnte?"

"Man muß nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr weiß, was man machen soll", antwortete Heidi ganz zuversichtlich.

"Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind", sagte der Doktor. "Wenn es aber aus ihm selbst kommt, was ihn so traurig und elend macht, was soll man da dem lieben Gott sagen?"

Heidi mußte nachdenken, es suchte eine Antwort in seinen eigenen Erlebnissen.

"Dann muß man warten", sagte es nach einer Weile ganz sicher, "und nur immer denken: Jetzt weiß der liebe Gott schon etwas Freudiges, was dann kommt, man muß nur noch ein wenig still sein und nicht fortlaufen. Weil man das aber vorher nicht sehen kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so denkt man, es bliebe immer so."

"Das ist ein schöner Glaube, den mußt du festhalten, Heidi", sagte der Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die mächtigen Felsenberge hinüber, dann sagte er:

"Siehst du, Heidi, es könnte jemand hier sitzen, der einen großen Schatten auf den Augen hätte, so daß er das Schöne gar nicht sehen könnte, das ihn hier umgibt. Dann müßte doch wohl



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das Herz hier traurig werden, doppelt traurig, weil es so schön sein könnte. Kannst du das verstehen?"

Jetzt kam Heidi etwas Schmerzliches in sein frohes Herz. Der große Schatten auf den Augen brachte ihm die Großmutter in Erinnerung, die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schöne hier oben sehen konnte. Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu erwachte, sobald es daran dachte.

"Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich weiß etwas: Dann muß man die Lieder der Großmutter aufsagen, die machen es einem wieder ein wenig hell, und manchmal so hell, daß man sehr fröhlich wird. Das hat die Großmutter gesagt." "Welche Lieder, Heidi?"fragte der Doktor.

"Ich kann nur das von der Sonne und dem schönen Garten und noch die Verse, die der Großmutter lieb sind, denn die muß ich immer dreimal lesen", erwiderte Heidi. "So sag mir die Verse, die möchte ich auch gern hören." Heidi legte seine Hände ineinander, besann sich noch ein Weilchen und sagte das Lieblingslied der Großmutter auf.

Der Doktor hatte die Hand über die Augen gebreitet und saß unbeweglich da. "Heidi, dein Lied war schön", sagte er dann, und seine Stimme klang froher, als sie bis jetzt geklungen hatte. "Wir wollen wieder hierherkommen, und dann sagst du mir's noch einmal."

Während dieser ganzen Zeit hatte Peter genug damit zu tun gehabt, seinem Ärger Luft zu machen. Da war Heidi seit vielen Tagen nicht mit auf der Weide gewesen, und nun saß der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und Peter konnte gar nicht an Heidi herankommen. Das verdroß ihn stark. Er stellte sich in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Herrn auf, so daß er ihn nicht sehen konnte, machte eine Faust und schwang sie drohend in der Luft herum. Und je länger Heidi neben dem Herrn sitzen blieb, desto schrecklicher ballte Peter seine Fäuste.

Indessen war die Sonne dahingekommen, wo sie steht, wenn man zu Mittag essen muß; das wußte Peter genau. Auf einmal schrie er zu den beiden hinüber: "Man muß essen!"



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Heidi stand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Doktor sein Mittagsmahl halten könne. Aber der sagte, er habe keinen Hunger, er wolle nur ein Glas Milch trinken und dann gern noch ein wenig auf der Alp herumwandern und etwas weiter hinaufsteigen. Da fand Heidi, dann habe es auch keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und danach wolle es den Herrn Doktor zu den großen moosbedeckten Steinen hoch oben hinaufführen. Es lief zum Peter hinüber und erklärte ihm alles. Der schaute erst eine Weile sehr erstaunt Heidi an, dann fragte er: "Wer soll haben, was im Sack ist?"

"Das kannst du haben, aber zuerst mußt du die Milch holen, und zwar schnell", war Heidis Antwort.

So rasch hatte Peter in seinem Leben noch keine Tat vollendet wie diese, denn er sah immer den Sack vor sich und wußte gar nicht, was drinnen war und ihm gehörte. Sobald die beiden drüben ruhig ihre Milch tranken, öffnete Peter den Sack und warf einen Blick hinein. Als er das große Stück Fleisch sah, da schüttelte es ihn vor Freude. Dann griff er mit der Hand in den Sack hinein und verzehrte mit vollem Vergnügen sein ungewöhnlich leckeres Mittagsmahl.

Der Doktor und Heidi waren lange miteinander herumgewandert und hatten sich gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es sei Zeit für ihn, zurückzukehren. Er meinte, Heidi wolle doch nun auch gern noch ein wenig bei seinen Geißen bleiben. Aber das kam Heidi nicht in den Sinn, denn dann mußte ja der Doktor mutterseelenallein die ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Hütte vom Großvater wollte es ihn durchaus begleiten und auch noch ein Stück weiter. Es ging immer Hand in Hand mit seinem guten Freund. Schließlich sagte der Doktor, nun müsse es umkehren.

Sie nahmen Abschied, und der Herr ging den Berg hinunter; doch von Zeit zu Zeit drehte er sich noch einmal um. Dann sah er, daß Heidi immer noch auf der gleichen Stelle stand und ihm mit der Hand nach winkte. So hatte es sein eigenes Töchterchen getan, wenn er von Hause fortging.



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Es war ein klarer, sonniger Herbstmonat. Jeden Morgen kam der Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine schöne Wanderung. Oft zog er mit dem Alm-Öhi hoch in die Felsenberge hinauf. Der Doktor hatte großes Gefallen an der Unterhaltung mit seinem Begleiter, und er mußte sich recht wundern, wie gut der Öhi alle Kräuter ringsherum auf seiner Alp kannte und wußte, wozu sie gut waren. Ebenso genau kannte der Alte das Wesen und Treiben aller Tiere da oben.

So ging der schöne Septembermonat zu Ende. Da kam der Doktor eines Morgens herauf und sah nicht so fröhlich wie sonst immer aus. Er sagte, heute sei sein letzter Tag, denn er müsse nach Frankfurt zurückkehren. Das falle ihm sehr schwer, denn er habe die Alp so liebgewonnen, als wäre sie seine Heimat. Der Doktor nahm Abschied vom Großvater und fragte dann, ob Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte noch immer nicht recht fassen, daß er ganz fortgehen wollte.

Nach einer Weile stand der Doktor still und sagte, nun sei Heidi weit genug mitgekommen, es müsse umkehren. Er fuhr ein paarmal zärtlich mit seiner Hand über das krause Haar des Kindes und sagte: "Nun muß ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach Frankfurt nehmen und bei mir behalten könnte!"

Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen, vielen Häuser und steinernen Straßen und auch Fräulein Rottenmeier und die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: "Ich wollte doch lieber, daß Sie wieder zu uns kämen."

"Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi", sagte der Doktor freundlich und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte seine hinein und schaute zu dem Fortgehenden auf. Die guten Augen, die zu ihm niederblickten, füllten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Doktor rasch um und eilte den Berg hinunter.

Heidi blieb stehen und rührte sich nicht. Auf einmal brach es in lautes Weinen aus, und mit aller Macht stürzte es dem Forteilenden nach und rief: "Herr Doktor! Herr Doktor!"



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Er kehrte um und stand still. Die Tränen strömten ihm die Wangen herunter, während das Kind herausschluchzte: "Ich will gewiß auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei Ihnen bleiben, so lange Sie wollen, ich muß es nur geschwind dem Großvater sagen."

"Nein, mein liebes Heidi", sagte er, das erregte Kind beruhigend, "nicht jetzt auf der Stelle; du mußt noch unter den Tannen bleiben, du könntest mir sonst wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir kommen und bei mir bleiben? Kann ich daran glauben, daß sich dann noch jemand um mich kümmern und mich liebhaben will?"

"Ja, ja, dann will ich bestimmt kommen, noch am selben Tag, und Sie sind mir auch fast so lieb wie der Großvater", versicherte Heidi schluchzend.

Da drückte ihm der Doktor noch einmal die Hand, dann setzte er rasch seinen Weg fort. Heidi aber blieb auf derselben Stelle stehen und winkte mit seiner Hand fort und fort, solange es nur noch ein Pünktchen entdecken konnte.



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Der Winter im Dörfli

Um die Almhütte lag der Schnee so hoch, daß es aussah, als stünden die Fenster auf dem flachen Boden, auch die Haustür war völlig verschwunden. Wäre der Alm-Öhi noch oben gewesen, so hätte er dasselbe tun müssen, was Peter jetzt täglich mußte, weil es gewöhnlich über Nacht wieder geschneit hatte. Jeden Morgen mußte der jetzt aus dem Fenster der Stube hinausspringen, und er versank so tief in dem weichen Schnee, daß er mit Händen und Füßen nach allen Seiten stoßen und ausschlagen mußte, bis er sich wieder herausgearbeitet hatte. Darauf gab ihm die Mutter den großen Besen aus dem Fenster, und mit dem stieß und scharrte der Peter den Schnee vor sich weg, bis er zur Tür kam.

Wenn er ins Dörfli hinunter mußte, öffnete er nur das Fenster, kroch durch und kam draußen auf dem festen Schneefeld an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenster nach, und Peter brauchte sich nur daraufzusetzen und abzufahren, denn die ganze Alm war ein großer, ununterbrochener Schlittenweg.

Der Öhi war den Winter über nicht auf der Alm, er hatte Wort gehalten. Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall abgeschlossen und war mit Heidi und den Geißen zum Dörfli hinuntergezogen. Dort stand in der Nähe der Kirche ein weitläufiges Gebäude, das halb zerfallen war. Schon als der Öhi mit seinem Jungen Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seitdem hatte es meist leergestanden, denn wer es nicht verstand, dem Verfall von vornherein ein wenig zu begegnen und die Löcher und Lücken gleich zu stopfen und zu flicken, der



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konnte nicht da bleiben. Der Winter droben im Dörfli war lang und kalt, aber der Öhi wußte sich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entschluß gekommen war, den Winter im Dörfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder übernommen und war den Herbst hindurch öfter heruntergekommen, um alles wohnlich herzurichten.

Kam man von hinten an das Haus heran, so trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Über dieser war noch ein Bogenfenster stehengeblieben, man konnte gut sehen, daß der Raum die Kapelle gewesen war. Ohne Tür kam man weiter in eine große Halle hinein, da waren hier und da noch schöne Steinplatten auf dem Boden, und zwischendurch wuchs das Gras dicht empor. Hier hatte der Öhi einen Bretterverschlag gemacht und den Boden dicht mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle sollten die Geißen wohnen.

Dann ging es durch allerlei Gänge, und dort, wo die schwere eichene Tür noch fest in den Angeln hing, kam man in eine große Stube hinein, die war noch gut. Da waren die vier festen Wände mit dem dunklen Holzgetäfel noch ohne Lücken, und in der einen Ecke stand ein großer Ofen, der fast bis an die Decke reichte. Um den Ofen herum ging eine Bank, so daß man da gleich sitzen und die Bilder anschauen konnte, die auf die weißen Kacheln gemalt waren.

Sobald Heidi mit dem Großvater in die Stube eingetreten war, lief es auf den Ofen zu, setzte sich auf die Bank und betrachtete die Bilder. Aber als es, auf der Bank weitergleitend, bis hinter den Ofen gelangte, erregte etwas Neues seine ganze Aufmerksamkeit. Zwischen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgestellt, das war unverkennbar Heidis Bett, ganz so, wie es oben auf der Alm gewesen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Heidi jauchzte auf: "Oh, Großvater, da ist meine Kammer!"

Heidi hüpfte durch die weite Stube dem Großvater nach, der auf der anderen Seite eine Tür aufmachte, die in einen kleinen



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Raum hineinführte. Dort hatte der Großvater sein Lager errichtet. Dann kam aber wieder eine Tür. Heidi machte sie geschwind auf und stand ganz verwundert still, denn da sah man in eine Art Küche hinein, die war so groß, wie es noch nie eine in seinem Leben gesehen hatte.

Es gefiel Heidi gut in der neuen Behausung, und bereits am anderen Tag, als Peter kam, hatte es in alle Winkel und Ecken so genau hineingeguckt, daß es schon richtig daheim war und Peter überall herumführen konnte.

Heidi schlief herrlich in seinem Ofenwinkel; aber am Morgen dachte es doch immer, es müsse auf der Alp erwachen und gleich die Hüttentür aufmachen, um nach den Tannen zu sehen. So mußte es jeden Morgen zuerst lange hin und her schauen, bis es sich wieder besinnen konnte, wo es war. Aber wenn es dann den Großvater draußen mit Schwänli und Bärli reden hörte und auch die Geißen so laut und lustig meckerten, dann merkte es, daß es doch daheim war.

Am vierten Tag sagte Heidi: "Heute muß ich gewiß zur Großmutter hinauf, sie kann nicht so lange allein sein."

Aber der Großvater war damit nicht einverstanden. "Heute nicht und morgen auch noch nicht", sagte er. "Zur Alm hinauf liegt der Schnee meterhoch, und noch immer schneit es, selbst Peter kann kaum durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, wäre auf der Stelle eingeschneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannst du bequem über die Schneedecke hinauf spazieren."

Das Warten machte Heidi zuerst ein wenig Kummer. Aber die Tage waren jetzt so von Arbeit angefüllt, daß einer immer rasch dahin war und schon ein anderer kam.

Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging Heidi im Dörfli zur Schule und lernte sehr fleißig, was da zu lernen war. Peter aber sah man fast nie in der Schule. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann sagte: "Es scheint mir, der Peter ist wieder nicht da. Die Schule täte ihm doch gut, doch es liegt viel Schnee dort oben, er wird wohl nicht durchkommen."



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Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam Peter meistens durch und machte Heidi seinen Besuch.

Als Peter eines Morgens aus seinem Fenster in den Schnee hinabsprang, schlug er auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und schnell rutschte er ein gutes Stück den Berg hinunter wie ein herrenloser Schlitten. Sehr verwundert kam er schließlich wieder auf die Füße. Wie er auch stapfte und mit den Absätzen einschlug, kaum konnte er ein kleines Eissplitterchen herausschlagen; die ganze Alm war steinhart gefroren.

Das war dem Peter eben recht. Er wußte, daß das nötig war, damit Heidi wieder einmal heraufkommen könnte. Schleunigst kehrte er um, schluckte seine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den Tisch gestellt hatte, steckte sein Stück Brot in die Tasche und sagte eilig: "Ich muß in die Schule."

"Ja, so geh und lern auch brav", sagte die Mutter zustimmend.

Peter kroch zum Fenster hinaus - denn nun war man des Eisberges vor der Tür wegen eingesperrt -, zog seinen kleinen Schlitten nach sich, setzte sich darauf und schoß den Berg hinunter.

Es ging wie der Blitz, und als er im Dörfli ankam, wo es gleich weiter hinab nach Mayenfeld ging, fuhr Peter weiter. Es kam ihm so vor, als müßte er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er den Lauf auf einmal bremsen sollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann stieg er ab und sah sich um. Die schnelle Abfahrt hatte ihn noch ziemlich weit nach Mayenfeld hinausgejagt. Jetzt fiel ihm ein, daß er jedenfalls zu spät in die Schule käme, da sie schon lange begonnen hatte. So konnte er sich zur Rückkehr Zeit lassen.

Das tat er denn auch und kam gerade oben im Dörfli wieder an, als Heidi aus der Schule zurückgekehrt war und sich mit dem Großvater an den Mittagstisch setzte. Peter trat herein, und da er diesmal etwas Besonderes mitzuteilen hatte, mußte er es gleich bim Eintreten loswerden.



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"Es ihn", sagte der Peter, mitten in der Stube stehend.

"Wen? Wen, General? Das tönt ziemlich kriegerisch", sagte der Öhi.

"Den Schnee", berichtete Peter.

"Oh! Oh! Jetzt kann ich zur Großmutter hinauf", frohlockte Heidi, das die Ausdrucksweise von Peter gleich verstanden hatte. "Aber warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut herunter schlittern", setzte es vorwurfsvoll hinzu.

"Bin mit dem Schlitten zu weit gekommen, war zu spät", gab Peter zurück.

"Das nennt man ausweichen", sagte der Öhi, "und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hörst du? Wenn du



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noch einmal auf deinem Schlitten über die Schule hinausfährst zu einer Zeit, wo du hinein solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür gehört."

Jetzt verstand Peter den Zusammenhang der Rede und sah ein wenig ängstlich in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, was er in solchen Fällen für die Geißen brauchte.

Aber der Öhi sagte nun ermunternd: "Komm an den Tisch jetzt und halt mit, dann geht Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim, dann findest du dein Nachtessen hier."

Heidi rannte an den Schrank und holte den Mantel von Klara hervor; jetzt konnte es, schön warm eingepackt und mit der Kapuze über dem Kopf, seine Fahrt antreten. Es stellte sich nun neben Peter hin, und als dieser sein letztes Stück eingeschoben hatte, sagte es: "Jetzt komm!" Dann machten sie sich auf den Weg. Heidi hatte Peter sehr viel von Schwänli und Bärli zu erzählen, und die beiden kamen oben an, ohne daß Peter ein einziges Wort gesagt hätte.

Drinnen in der Stube saß die Mutter allein beim Flicken; sie sagte, die Großmutter müsse die Tage im Bett bleiben, es sei zu kalt für sie, und dann sei es ihr auch sonst nicht wohl. Heidi rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein.

"Gott Lob und Dank!" sagte die Großmutter gleich, als sie Heidi hereinspringen hörte. Sie hatte schon den ganzen Herbst hindurch eine geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte, wenn Heidi eine Zeitlang nicht kam. Peter hatte von dem Besuch des fremden Herrn berichtet, die Großmutter dachte nicht anders, als daß der Herr gekommen sei, um Heidi wieder mit fortzunehmen.

Heidi sprang zum Bett der Kranken hin und fragte besorgt: "Bist du krank, Großmutter?"

"Nein, nein, Kind", beruhigte die Alte, indem sie Heidi liebevoll streichelte. "Der Frost ist mir nur in die Glieder gefahren."

"Aber Großmutter", fing Heidi wieder an, "bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so soll ein Bett nicht sein."



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"Ich weiß schon, Kind, ich spüre es auch wohl." Die Großmutter suchte auf dem Kissen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopf lag, einen besseren Platz zu gewinnen. "Siehst du, das Kissen war nie besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen, daß ich es ein wenig flach gelegen habe."

"Oh, hätte ich nur in Frankfurt Klara gefragt, ob ich nicht meit Bett mitnehmen könne", sagte jetzt Heidi. "Da waren drei große, dicke Kissen aufeinander, daß ich gar nicht schlafen konnte und immer wieder herunterrutschte. Könntest du so schlafen, Großmutter?"

"Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn man so hoch mit dem Kopf liegen kann", sagte die Großmutter, ein wenig mühsam ihren Kopf aufrichtend, um eine höhere Stelle zu finden. "Aber wir wollen jetzt nicht davon reden, ich habe ja dem lieben Gott für so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Allein das Brötchen, das ich immer bekomme, und das schöne warme Tuch hier, und daß du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch heute wieder etwas vorlesen?"

Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun las es ein schönes Lied nach dem anderen, und es freute sich selbst, das alles wieder zu hören. Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Gesicht, das erst so bekümmert ausgesehen hatte, lag jetzt ein freudiges Lächeln.

Nach einer Weile sagte das Kind: "Jetzt wird's dunkel, Großmutter, ich muß heim, aber ich bin so froh, daß es dir wieder wohl ist."



***
Am anderen Tag kam Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack mitgebracht. Denn wenn um Mittag die Kinder im Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten


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Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran vergnügen, dann ging die Schule wieder an. Hatte Peter einmal einen solchen Schultag mitgemacht, ging er am Schluß zum Öhi hinüber und besuchte Heidi.

Als er heute nach Schulschluß in die große Stube beim Öhi eintrat, schoß Heidi gleich auf ihn zu, denn auf ihn hatte es gerade gewartet. "Peter, ich weiß etwas", rief es ihm entgegen. "Jetzt mußt du lesen lernen!"

"Kann nicht", sagte Peter.

"Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr, und ich auch nicht", sagte Heidi sehr entschieden. "Die Großmama in Frankfurt hat schon gewußt, daß es nicht wahr ist, und sie hat zu mir gesagt, ich soll es nicht glauben. Du mußt es jetzt endlich lernen, und dann mußt du alle Tage der Großmutter ein Lied oder zwei vorlesen."

In dem großen Paket der Klara hatte sich auch ein Büchlein gefunden, das Heidi gut gefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das könnte es gut für den Peter zum Unterricht gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.

Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen. Peter mußte den ersten Spruch buchstabieren und dann immer wieder und dann noch einmal, denn Heidi wollte die Sache sauber und geläufig haben.

Endlich sagte es: "Du kannst's immer noch nicht, aber ich will ihn dir jetzt einmal hintereinander lesen. Wenn du weißt, wie's heißen muß, kannst du's besser zusammenbuchstabieren." Und Heidi las:

"Geht heut das ABC noch nicht,
kommst morgen du vor's Schulgericht."

"Ich gehe nicht vor das Gericht", sagte Peter mit störrisehem Gesicht.

"So mach, daß du einmal die drei Buchstaben kennst, dann brauchst du ja nicht zu gehen", bewies ihm Heidi.



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Jetzt setzte Peter noch einmal an und wiederholte die drei Buchstaben so lange, bis Heidi sagte: "Jetzt kannst du die drei."

Da es aber nun gemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den Peter ausgeübt hatte, wollte es gleich noch ein wenig für die folgenden Lehrstunden vorarbeiten.

"Warte, ich will dir jetzt noch die anderen Sprüche vorlesen", fuhr es fort, "dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann." Und es begann klar und verständlich zu lesen:

"DEFG muß fließend sein,
sonst kommt ein Unglück hinterdrein.
Vergessen HIK,
das Unglück ist schon da.
Wer am LM noch stottern kann,
zahlt eine Buß' und schämt sich dann.
Es gibt etwas, und wüßtest's du,
du lerntest schnell NOPQ.
Stehst du noch an bei RST,
kommt etwas nach, das tut dir weh."

Hier hielt Heidi inne, denn Peter war so mäuschenstill, daß es einmal sehen mußte, was er mache. Die Drohungen und geheimen Schrecknisse hatten ihm so zugesetzt, daß er kein Glied mehr bewegte und Heidi schreckensvoll anstarrte.

"Du mußt dich nicht fürchten, Peter. Komm jetzt nur jeden Abend zu mir, und wenn du dann lernst wie heute, so kannst du bestimmt alle Buchstaben, und das andere kommt nicht."

Peter versprach fleißig zu sein, denn die furchtbaren Drohungen hatten ihn zahm und willig gemacht. Er befolgte Heidis Vorschrift pünktlich, und jeden Abend wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert. Oft saß auch der Großvater in der Stube und hörte den Übungen zu, indem er vergnügt sein Pfeifchen rauchte. Nach der großen Anstrengung wurde Peter dann meistens aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was ihn bald für die ausgestandene Angst, die der neue Spruch mit sich gebracht hatte, reichlich entschädigte. So gingen die Wintertage dahin. Peter erschien



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regelmäßig und machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben. Mit den Sprüchen mußte er aber täglich fechten. Man war jetzt beim U angelangt. Als Heidi den Spruch las:

"Wer noch das U in V verdreht,
kommt dahin, wo er nicht gern geht" —

da knurrte Peter: "Ja, wenn ich ginge!" Aber er lernte doch tüchtig zu, so als stünde er unter dem Eindruck, es könnte ihn doch einer heimlich beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wo er nicht gern hinwollte. Am folgenden Abend las Heidi:

"Ist dir das W noch nicht bekannt,
schau nach dem Rütlein an der Wand."

Da guckte Peter hin und sagte höhnisch: "Hat keins!"

"Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kasten hat?" fragte Heidi. "Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm."

Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich über sein W und versuchte es zu erfassen.

Am andern Tag hieß es:

"Willst du noch das X vergessen,
kriegst du heute nix zu essen."

Da schaute Peter forschend zum Schrank hinüber, wo das Brot und der Käse lagen, und sagte ärgerlich: "Ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich das X vergessen wollte."

"Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann können wir ja auch gleich noch einen lernen", schlug Heidi vor, "dann hast du morgen nur noch einen einzigen Buchstaben."

Peter war nicht einverstanden. Aber schon las Heidi weiter:

"Machst du noch halt beim Y,
kommst du mit Hohn und Spott davon."

Am Tag darauf kam er schon ein wenig hochmütig bei Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm Heidi gleich den Spruch las:

"Wer zögernd noch bei Z bleibt stehn,
muß zu den Hottentotten gehn!" —

da höhnte Peter: "Ja, wenn kein Mensch weiß, wo die sind!"



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"Freilich, Peter, das weiß der Großvater schon", versicherte Heidi. "Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist nur beim Herrn Pfarrer drüben." Und schon war Heidi aufgesprungen.

"Nichts! Komm zurück! Ich will lernen!" stieß Peter hervor. Nicht nur das Z wurde so oft wiederholt, daß der Buchstabe für alle Zeit in seinem Gedächtnis festsitzen mußte, sondern Heidi ging gleich noch zum Buchstabieren über.

Der Schnee war wieder weich geworden, und darüber schneite es neuerdings einen Tag um den anderen, so daß Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in seiner Arbeit mit Peter, damit er es beim Liederlesen ersetzen könne. So kam eines Abends Peter vom Heidi heim, trat in die Stube und sagte: "Ich kann's!"

"Was kannst du, Peterli?" fragte die Mutter erwartungsvoll; und voller Stolz antwortete Peter: "Das Lesen!"



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"Ist das denn möglich! Hast du's gehört, Großmutter?" rief Brigitte ganz verwundert aus.

"Ich muß jetzt ein Lied vorlesen, Heidi hat's gesagt", berichtete Peter weiter. Die Mutter holte schnell das Buch herunter, und die Großmutter freute sich, sie hatte so lange kein tröstendes Wort gehört. Peter setzte sich an den Tisch und begann zu lesen. Seine Mutter saß aufhorchend neben ihm. Nach jedem Vers sagte sie mit Bewunderung: "Wer hätte das gedacht!"

Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Vers nach dem anderen, aber sie sagte nichts dazu. Am Tag nach diesem Ereignis war es, daß in der Schule in Peters Klasse eine Leseübung stattfand. Als die Reihe an Peter kommen sollte, sagte der Lehrer:

"Peter, muß man dich wie immer übergehen, oder willst du einmal wieder versuchen, an einer Zeile herumzustottern?"

Peter fing an und las hintereinander drei Zeilen, ohne abzusetzen. Der Lehrer legte sein Buch weg.

"Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Woher können zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?"

"Vom Heidi", antwortete der.

Höchst verwundert schaute der Lehrer zum Heidi, das ganz harmlos auf seiner Bank saß, so daß nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er fuhr fort:

"Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du früher oftmals die ganze Woche hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag fortgeblieben. Woher kann denn solch eine Wandlung zum Guten in dich gekommen sein?"

"Vom Öhi", war die Antwort. Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Pfarrer hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Art der Öhi und Heidi wirkten.



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Die fernen Freunde regen sich

Der Mai war gekommen. Von allen Höhen strömten die vollen Frühlingsbäche ins Tal herab, und warmer Sonnenschein lag auf der Alp. Sie war wieder ganz grün geworden. Der letzte Schnee war weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten schon die ersten Blümchen aus dem frischen Gras heraus. Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und wußte gar nicht, wo es am schönsten war.

Vom Schuppen hinter der Hütte hervor ertönte hie und da ein eifriges Klopfen und Sägen. Heidi lauschte auch einmal dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Töne, die es so gut kannte und die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehört hatten. Jetzt mußte es aufspringen und auch einmal dorthin rennen, denn es mußte doch wissen, was beim Großvater vor sich ging. Vor der Schuppentür stand schon fix und fertig ein schöner neuer Stuhl, und der Großvater arbeitete mit geschickter Hand am zweiten.

"Oh, ich weiß schon, was das gibt!" rief Heidi freudig aus. "Das ist nötig, wenn sie von Frankfurt kommen. Der ist für die Großmama, und der, den du jetzt machst, für Klara, und dann - dann muß noch einer da sein", fuhr Heidi zögernd fort, "oder glaubst du nicht, Großvater, daß Fräulein Rottenmeier auch mitkommt?"

"Das kann ich nicht sagen", meinte der Großvater. "Es ist aber sicherer, einen Stuhl bereit zu haben, damit wir sie zum Sitzen einladen können, falls sie kommt."

Plötzlich erscholl von oben her Pfeifen und Rufen und Rutenschwingen. Heidi wußte sofort, woran es war. Es lief hinaus



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und war augenblicklich von den herabspringenden Geißen umringt. Denen mußte es auf der Alp so wohl sein wie Heidi, denn sie machten so hohe Sprünge und meckerten so lebenslustig wie noch nie. Aber Peter stieß sie alle weg, die eine rechts und die andere links, denn er hatte Heidi eine Botschaft zu überbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm einen Brief entgegen.

Heidi sprang zum Großvater und streckte ihm in großer Freude den Brief entgegen: "Von Frankfurt! Von Klara! Willst du ihn gleich auch hören, Großvater?"

Das wollte er schon gern, und auch Peter, der Heidi gefolgt war, schickte sich zum Zuhören an. Er stemmte sich mit dem Rücken gegen den Türpfosten, um einen festen Halt zu haben. So war es leichter, Heidi zu folgen, als es den Brief vorlas:

"Liebes Heidi!

Wir haben schon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir abreisen, sobald Papa auch abreist, aber nicht mit uns, er muß zuerst noch nach Paris. Alle Tage kommt der Doktor und ruft schon an der Tür: ,Fort! Fort! —Auf die Alp!' Er kann es gar nicht erwarten, daß wir gehen. Du sollst nur wissen, wie gern er selbst auf der Alp war! Den ganzen Winter ist er fast jeden Tag zu uns gekommen; er sagte immer, er komme zu mir, er müsse mir wieder erzählen! Dann setzte er sich zu mir und erzählte von allen Tagen, die er mit Dir und dem Großvater auf der Alp zugebracht hat. Oft sagte er: ,Dort oben müssen alle Menschen wieder gesund werden.' Er ist auch selbst wieder so anders geworden, als er eine Zeitlang war, richtig jung und fröhlich sieht er wieder aus. Oh, wie freue ich mich, das alles zu sehen und bei Dir auf der Alp zu sein und auch Peter und die Geißen kennenzulernen!

Erst muß ich in Ragaz etwa sechs Wochen lang eine Kur machen, das hat der Doktor befohlen, und dann sollen wir nachher im Dörfli wohnen, und ich soll dann an schönen Tagen auf die Alp in meinem Stuhl hinaufgefahren werden und den Tag über bei Dir bleiben. Die Großmama kommt mit und bleibt bei



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mir. Sie freut sich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk nur, Fräulein Rottenmeier will nicht mit. Fast jeden Tag sagt die Großmama einmal: ,Wie ist's mit der Schweizer Reise, werte Rottenmeier? Genieren Sie sich nicht, wenn Sie Lust haben, mitzukommen.' Aber sie dankt immer furchtbar höflich und sagt, sie wolle nicht unbescheiden sein.

Aber ich weiß schon, woran sie denkt. Sebastian hat eine so schreckliche Beschreibung von der Alp gemacht, als er von Dir nach Hause kam, wie furchtbar die Felsen dort herunterstarren und man überall in Klüfte und Abgründe niederstürzen könne. Sie hat sehr geschaudert bei dieser Beschreibung, und seitdem schwärmt sie nicht mehr wie früher für die Schweizer Reisen. So kommen wir allein, Großmama und ich; nur Sebastian muß uns bis nach Ragaz begleiten, dann wird er wieder heimkehren.



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Ich kann es fast nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann! Lebe wohl, liebes Heidi, die Großmama läßt Dich tausendmal grüßen!

Deine treue Freundin Klara."

Als Peter das gehört hatte, sprang er vom Türpfosten weg und hieb mit seiner Rute so rücksichtslos und wütend nach rechts und links, daß die Geißen alle die Flucht ergriffen. Hinter ihnen her stürmte Peter und hieb mit seiner Rute in die Luft hinein, als müsse er an einem unsichtbaren Feind einen unerhörten Zorn auslassen. Dieser Feind war die baldige Ankunft der Frankfurter Gäste.

Heidi war so voller Glück und Freude, daß es durchaus am anderen Tag der Großmutter einen Besuch machen und ihr alles erzählen mußte. Es zog auch am folgenden Nachmittag früh los, denn jetzt konnte es seine Besuche schon wieder allein unternehmen. Die Sonne schien ja wieder hell und blieb lange am Himmel stehen, und über den trockenen Boden ließ es sich herrlich bergab rennen.

Die Großmutter lag nicht mehr zu Bett. Sie war wieder in ihrer Ecke und spann. Es lag aber ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, als habe sie es mit schweren Gedanken zu tun. Das war seit gestern abend so, und die ganze Nacht hindurch hatten sie diese Gedanken verfolgt und nicht schlafen lassen. Peter war in seinem großen Zorn heimgekommen, und sie hatte aus seinen abgebrochenen Ausrufen hören können, daß eine Schar von Leuten aus Frankfurt zur Almhütte hinaufkäme.

Jetzt sprang Heidi herein und gerade auf die Großmutter zu, setzte sich auf sein Schemelchen und erzählte ihr mit Eifer alles, was es wußte. Aber auf einmal hörte es mitten im Satz auf und fragte besorgt: "Was hast du, Großmutter, freut dich das alles kein bißchen?"

"Nein, nein! Es ist nichts, es ist nichts!" beruhigte die Großmutter. "Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, damit ich recht spüren kann, daß du noch da bist. Es wird ja doch zu deinem Besten sein, wenn ich es auch fast nicht überleben kann."



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"Ich will nichts von dem Besten, wenn du es fast nicht überleben kannst, Großmutter", sagte Heidi so bestimmt, daß dieser mit einmal eine neue Befürchtung aufstieg. Sie mußte ja annehmen, daß die Leute aus Frankfurt kämen, um Heidi zu holen, da es nun wieder gesund war.

"Ich weiß etwas, Heidi", sagte sie nun, "das tut mir wohl und bringt mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im Anfang heißt: ,Gott will's machen'."

Heidi wußte jetzt so gut Bescheid in dem alten Liederbuch, daß es auf der Stelle das fand, was die Großmutter wollte, und es las den Vers vor.

"Ja, ja, das ist's grad, was ich hören mußte", sagte die Großmutter erleichtert, und der Ausdruck von Kummer verschwand aus ihrem Gesicht.

So verging der Mai, und es kam der Juni mit seiner noch wärmeren Sonne und den langen lichten Tagen, die alle Blumen auf der Alp herauslockten. Als Heidi eines Morgens aus der Hütte herausgesprungen kam und um die Hütte herumrennen wollte, schrie es auf einmal aus Leibeskräften, so daß der Öhi aus dem Schuppen heraustrat, denn das war etwas Ungewöhnliches.

"Großvater! Großvater!" rief Heidi außer sich. "Komm hierher! Komm hierher! Sieh! Sieh!"

Der Großvater erschien, und sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm des aufgeregten Kindes.

Die Alm herauf schlängelte sich ein seltsamer Zug. Zuerst kamen zwei Männer mit einem offenen Tragsessel, darauf saß ein junges Mädchen, in viele Tücher gehüllt. Dann kam ein Pferd, darauf saß eine stattliche Dame, die sehr lebhaft nach allen Seiten blickte und sich eifrig mit dem jungen Führer unterhielt, der neben ihr ging. Danach kam ein leerer Rollstuhl, von einem anderen Burschen gefahren, denn die Kranke, die hineingehörte, wurde den steilen Berg hinauf besser auf dem Tragsessel gebracht. Zuletzt kam ein Träger, der hatte auf seine Trage viele Decken, Tücher und Pelze gehäuft.



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"Sie sind's! Sie sind's!" schrie Heidi und hüpfte vor Freude hochauf. Sie waren es wirklich. Die Träger setzten ihren Sessel auf die Erde, Heidi sprang herzu, und die Kinder begrüßten sich mit großer Freude. Jetzt war auch die Großmama oben und stieg von ihrem Pferd herunter. Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit großer Zärtlichkeit begrüßt. Dann wandte sich die Großmama zum Alm-Öhi, der näher gekommen war, um sie zu begrüßen. Da war keine Steifheit in der Begrüßung, denn sie kannte ihn und er sie so gut, als hätten sie schon lange Zeit miteinander verkehrt.

Gleich nach den ersten Worten der Begrüßung sagte die Großmama mit großer Lebhaftigkeit: "Mein lieber 0M, was haben Sie für einen Herrensitz! Wer hätte das gedacht! Mancher König könnte Sie darum beneiden! Wie sieht auch mein Heidi aus! — Wie ein Monatsröschen", fuhr sie fort und zog das Kind an sich und streichelte ihm die frischen Backen. "Was ist das für eine Herrlichkeit um und um! Klärchen, mein Kind, was sagst du dazu?"

"Oh, wie schön ist es hier! Oh, wie schön Estes hier!" rief Klara immer wieder aus. "So hab' ich mir's nicht gedacht. Oh, Großmama, hier möcht' ich bleiben!"

Der Öhi hatte inzwischen den Rollstuhl herbeigeschoben und einige Decken hineingelegt. Jetzt trat er an den Tragsessel heran, hob die kranke Klara mit seinen starken Armen aus dem Strohsessel und setzte sie auf den weichen Sitz hin.

Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos über der Hütte und über den Tannen und weit über den hohen Felsen. Klara konnte sich gar nicht genug umschauen, sie war voller Entzücken über alles, was sie sah.

"Oh, Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen könnte, hier rund um die Hütte und unter die Tannen!" rief sie aus. "Wenn ich doch alles mit dir ansehen könnte, was ich schon so lange kenne und doch nie gesehen habe!"

"Aber das ist noch gar nichts, Klara", sagte Heidi. "Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommst, dann wirst du



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erst etwas sehen! Wenn man da sitzt, mag man gar nicht mehr aufstehen, so schön ist es!"

Heidis Augen funkelten vor Verlangen, das wiederzusehen, was es jetzt beschrieb. Klara war davon angesteckt, und aus ihren sanften blauen Augen leuchtete ein Widerschein von Heidis freudigem Verlangen auf.

"0 Großmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubst du, ich kann so hoch hinauf?" fragte sie sehnsüchtig. "Wenn ich nur gehen könnte, Heidi, und so mit dir auf der Alp herumsteigen, überallhin!"

"Ich will dich schon fahren", beruhigte Heidi sie und nahm nun zum Zeichen, wie leicht das gehe, einen solchen Anlauf um die Ecke herum, daß der Stuhl fast den Berg hinuntergeflogen wäre. Da stand aber der Großvater in der Nähe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf.

Während der Besuch unter den Tannen stattgefunden hatte, war der Großvater nicht müßig gewesen. Bei der Bank vor der Hütte standen jetzt der Tisch und die nötigen Stühle, und alles lag schon bereit, damit hier das Mittagsmahl eingenommen werden konnte.

Die Großmama war voller Entzücken über diesen Speisesaal, von dem man weit hinab ins Tal und über alle Berge weg in den blauen Himmel schauen konnte. Ein milder Wind fächelte den Tischgenossen Kühlung zu und säuselte so anmutig in den Tannen, als wäre es eine zum Fest bestellte Tafelmusik.

"So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist eine wahre Herrlichkeit!" rief die Großmama wieder und wieder aus. "Aber was sehe ich", setzte sie jetzt in höchster Bewunderung hinzu, "ich glaube gar, du bist an einem zweiten Stück Käsebraten angekommen, Klärchen!"

"Oh, das schmeckt so gut, Großmama, besser als an der Tafel in Ragaz", versicherte Klara und biß mit großem Appetit in die würzige Speise hinein.

"Nur zu! Nur zu!" sagte der Alm-Öhi wohlgefällig. "Das ist unser Bergwind, der hilft nach, wo die Küche zurückbleibt."



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So nahm das fröhliche Mahl seinen Verlauf. Die Großmama und der Alm-Öhi verstanden sich ausnehmend gut, und ihr Gespräch war immer lebhafter geworden. So ging die Zeit dahin. Auf einmal blickte die Großmama auf und sagte: "Wir müssen bald rüsten, Klärchen, die Sonne ist schon weit vorgerückt; die Leute müssen bald mit Pferd und Sessel wiederkommen."

Auf das eben noch so fröhliche Gesicht von Klara kam ein trauriger Ausdruck, und sie bat eindringlich: "Oh, nur noch eine Stunde, Großmama, oder zwei! Wir haben ja die Hütte noch gar nicht gesehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag noch zehn Stunden hätte!"

"Das ist nun nicht gut möglich", meinte die Großmama, aber die Hütte wollte sie auch gern noch ansehen. Man brach also gleich auf, und der Öhi lenkte den Stuhl mit fester Hand der Tür zu. Er hob Klara heraus und trug sie auf seinem Arm in die Hütte hinein.

Hier lief die Großmama hin und her und besah sich genau die ganze Einrichtung und hatte ihren großen Spaß an dieser Häuslichkeit, die so ordentlich und aufgeräumt aussah. "Das dort auf der Höhe ist ja wohl dein Bett, nicht wahr?" fragte sie jetzt und stieg gleich die Leiter zum Heuboden hinauf. "Oh, wie hübsch das duftet, das muß ein gesundes Schlafzimmer sein!" Und die Großmama ging zu dem Loch hin und guckte hindurch, und da stieg auch schon der Großvater mit Klara auf dem Arm nach, und Heidi hüpfte hinterher. Klara war von Heidis Schlafstätte hingerissen.

"Oh, Heidi, wie lustig hast du's doch! Vom Bett aus siehst du gerade in den Himmel hinein und hast einen so schönen Geruch um dich und hörst draußen die Tannen rauschen. So ein Schlafzimmer habe ich noch nie gesehen!" Der 0M schaute jetzt zu der Großmama hinüber.

"Ich habe so meine Gedanken", sagte er. "Ich denke, wenn wir das Töchterchen ein wenig hier oben behielten, so könnte es zu neuen Kräften kommen. Es sind so allerhand Tücher und



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Decken mitgekommen, aus denen machen wir hier ein schönes weiches Bett. Um die Pflege des Töchterchens brauchte die Frau Großmama keine Sorge zu haben, die übernehme ich."

Klara und Heidi jauchzten miteinander wie zwei freigelassene Vögel, und über das Gesicht der Großmama kam ein heller Schein.

"Mein lieber Öhi, Sie sind ein prächtiger Mann!" rief sie aus. "Was meinen Sie, was ich eben dachte? Ich sagte nur im stillen: Müßte nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind besonders stärken? Aber die Pflege, die Unbequemlichkeit für den Wirt! Und Sie kommen und sprechen es aus, so, als wäre nichts dabei. Ich muß Ihnen danken, mein lieber Öhi, ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken!" Und die Großmama schüttelte dem Öhi die Hand.

Sofort ging der Öhi zur Tat über. Er trug Klara in ihren Sessel vor die Hütte zurück, vom Heidi gefolgt, das nicht wußte, wie hoch es vor Freude springen sollte. Dann lud es gleich sämtliche Tücher und Pelzdecken auf seine Arme und sagte, wohlgefällig lächelnd: "Es ist gut, daß die Frau Großmama wie zu einem Winterfeldzug gerüstet hatte, das können wir brauchen."

"Mein lieber Öhi", antwortete die Hinzutretende, "Vorsicht ist eine schöne Tugend und schützt vor manchem Ärger."

Während dieses kleinen Gesprächs waren die beiden zum Heuboden hinaufgestiegen und begannen nun, die Tücher über das Bett hinzubreiten.

"Jetzt soll mir noch ein einziger Heuhalm durchstechen, wenn er kann", sagte die Großmama, indem sie noch einmal mit der Hand auf allen Seiten eindrückte. Sie stieg befriedigt die Leiter hinunter und trat zu den Kindern hinaus, die mit strahlenden Gesichtern nahe zusammensaßen und ausmachten, was sie nun vom Morgen bis zum Abend tun wollten, solange Klara auf der Alp bleiben durfte.

Aber wie lange würde das sein? Das war nun die große Frage, die augenblicklich der Großmama vorgelegt wurde. Die sagte,



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das wisse der Großvater am besten, ihn müßten sie fragen. Als dieser eben herzutrat und nun die Frage an ihn gerichtet wurde, meinte er, vier Wochen seien gerade recht, um beurteilen zu können, ob die Alpluft ihre Schuldigkeit an dem Töchterchen tue oder nicht.

Nun sah man von unten herauf wieder die Sesselträger und den Pferdeführer mit seinem Tier heranrücken. Die ersten konnten gleich wieder umkehren. Als sich die Großmama anschickte, ihr Pferd zu besteigen, rief Klara fröhlich aus: "Oh, Großmama, das ist nun gar kein Abschied, wenn du schon fortreitest, denn nun kommst du von Zeit zu Zeit zu uns zum Besuch auf die Alp, um zu sehen, was wir machen."

Die Großmama bestieg das feste Saumtier, und der Öhi ergriff den Zügel und führte das Pferd mit sicherer Hand den steilen Berg hinunter. In dem einsamen Dörfli wollte die Großmama, nachdem sie nun allein war, nicht bleiben. Sie wollte nach Ragaz zurückkehren und von dort aus von Zeit zu Zeit ihren Besuch wiederholen.

Noch bevor der Öhi wieder zurückgekehrt war, kam Peter mit seinen Geißen dahergerannt. Als diese merkten, wo Heidi



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war, stürzten sie alle der Stelle zu. Sofort waren Klara in ihrem Stuhl und Heidi mitten in dem Rudel drin, und drängend und stoßend guckte immer eine der Geißen über die andere her, und jede wurde Klara gleich von Heidi genannt und vorgestellt.

So kam es, daß sie in der kürzesten Zeit die lange erwünschte Bekanntschaft mit den sauberen Geißen des Großvaters und mit allen anderen gemacht hatte. Peter stand indessen abseits und warf drohende Blicke auf die vergnügte Klara.

Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinüberriefen: "Gute Nacht, Peter!" gab er keine Antwort, sondern hieb mit seiner Rute so grimmig in die Luft, als wollte er diese völlig entzweischlagen. Dann lief er davon und sein Gefolge hinter ihm her.

Zu allem Schönen, was Klara heute schon auf der Alp gesehen hatte, kam nun noch der Schluß. Als sie oben auf dem Heuboden in dem großen weichen Bett lag, zu dem Heidi nun auch emporkletterte, da schaute sie durch das runde Loch gerade auf die schimmernden Sterne, und voller Entzücken rief sie aus:

"0 Heidi, sieh, es ist gerade, als ob wir auf einem hohen Wagen in den Himmel hineinführen!"



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Wie es auf der Alm weitergeht

Eben war die Sonne hinter den Felsen heraufgestiegen und warf nun ihre goldenen Strahlen über die Hütte und über das Tal hinab. Der Alm-Öhi hatte, wie er es jeden Morgen tat, still und andächtig zugeschaut, wie sich rings auf den Höhen und im Tal die leichten Nebel lichteten und der neue Tag erwachte.

Jetzt trat der Öhi in seine Hütte zurück und stieg leise die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeschlagen und schaute mit höchster Verwunderung in die hellen Sonnenstrahlen, die durch das runde Loch hineindrangen und auf ihrem Bett tanzten. Sie wußte gar nicht, was sie sah und wo sie war. Doch jetzt erblickte sie das schlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertönte auch die freundliche Stimme des Großvaters: "Gut geschlafen? Nicht müde?"

Klara versicherte, sie sei nicht müde, und einmal eingeschlafen, sei sie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Großvater, und nun fing er gleich an und versorgte Klara so gut und verständnisvoll, als wäre es sein Beruf, kranke Kinder zu pflegen und es ihnen bequem zu machen.

Heidi hatte seine Augen jetzt aufgemacht und sah auf einmal voller Erstaunen, wie der Großvater die schon fertig angezogene Klara auf den Arm nahm und forttrug. Blitzschnell zog es sich auch an, dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch Heidi aus der Tür.

Der frische Morgenwind wehte um die Kinder, und ein würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herüber. Klara zog tiefe Züge ein und lehnte sich mit einem Wohlgefühl in ihren Stuhl zurück, wie sie es noch nie empfunden hatte.



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"0 Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte", sagte sie.

"Jetzt siehst du, daß es so ist, wie ich dir gesagt habe", entgegnete Heidi erfreut, "daß es am schönsten auf der ganzen Welt beim Großvater auf der Alm ist." Eben trat dieser aus dem Stall heraus zu den Kindern. Er brachte zwei Schüsselchen voll schäumender schneeweißer Milch und reichte eins Klara, das andere Heidi.

"Das wird dem Töchterchen wohltun", sagte er, Klara zunickend; "sie ist vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohlsein! Nur zu!" Klara hatte noch nie Milch von einer Geiß getrunken, sie hatte erst zur Sicherheit ein wenig daran riechen müssen. Als sie nun aber sah, mit welcher Begierde Heidi seine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal abzusetzen, da setzte Klara auch an und trank und trank. Und wirklich, die Milch war so süß und kräftig, als wäre Zucker und Zimt darin.

"Morgen nehmen wir zwei", sagte der Großvater, der voller Befriedigung zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war.

Jetzt erschien Peter mit seiner Schar, und während Heidi gleich mitten in die Herde hineingedrängt wurde, nahm der Öhi Peter ein wenig auf die Seite. "Jetzt paß auf", sagte der Öhi. "Von heute an läßt du dem Schwänli seinen Willen. Es fühlt selbst, wo die kräftigsten Kräutlein sind. Wenn es also hinauf will, so gehst du nach, den anderen tut's ja auch gut."

Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich seinen Marsch an; man konnte aber merken, daß er noch etwas in sich hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Geißen folgten und drängten Heidi noch eine Strecke mit vorwärts. Das war Peter eben recht. "Du mußt mit", rief er jetzt drohend in das Geißenrudel hinein.

"Nein, ich kann nicht", rief Heidi zurück. "Ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, solange Klara bei mir ist. Aber einmal gehen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns versprochen."



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Mit diesen Worten hatte sich Heidi aus den Geißen herausgewunden und sprang zu Klara zurück. Jetzt machte Peter mit beiden Fäusten eine drohende Bewegung zum Rollstuhl hinunter und lief eine ganze Strecke weit hinauf, um nicht vom 0M beobachtet zu werden.

Klara und Heidi hatten für heute soviel im Sinn, daß sie gar nicht wußten, wo sie anfangen sollten. Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die Großmama zu schreiben, den hatten sie versprochen, jeden Tag einen.

"Müssen wir zum Schreiben in die Hütte?"fragte Klara, die wohl dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber da draußen war es ihr so wohl, daß sie gar nicht weg mochte. Aber Heidi wußte sich zu helfen. Sofort rannte es in die Hütte hinein und kam mit seinen ganzen Schulsachen und dem niedrigen Dreibein stühlchen wieder zurück. Es legte Lesebuch und Schreibheft Klara auf den Schoß, damit sie darauf schreiben konnte, und setzte sich auf sein Stühlchen an die Bank hin.

Nach jedem Satz, den Klara schrieb, legte sie ihren Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war ja zu schön. Groß und schweigend schauten die hohen Felsenberge herüber; und das weite Tal lag wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das frohe Jauchzen der Hirtenbuben durch die Luft.

Der Morgen ging dahin, die Kinder wußten nicht, wie, und schon kam der Großvater mit der dampfenden Schüssel daher. So wurde das Mittagsmahl, wie gestern, vor der Hütte aufgebaut und mit Vergnügen eingenommen. Dann rollte Heidi den Stuhl mit Klara unter die Tannen.

Dort saßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger sie im Erzählen wurden, desto lauter pfiffen die Vögel oben in den Zweigen. Die Zeit flog dahin, und schnell wurde es Abend. Schon kam das Geißenheer heruntergestürmt, der Anführer hinterdrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene.

"Gute Nacht, Peter!" rief ihm Heidi zu, als es sah, daß er nicht vorhatte, stillzustehen.



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"Gute Nacht, Peter!" rief auch Klara freundlich hinüber. Er gab keinen Gruß zurück und jagte schnaubend die Geißen weiter.

Als Klara jetzt sah, wie der Großvater das saubere Schwänli zum Melken in den Stall führte, da bekam sie auf einmal ein heißes Verlangen nach der würzigen Milch.

"Das ist aber komisch, Heidi", sagte sie. "Solange ich weiß, habe ich nur gegessen, weil ich mußte, und alles, was ich bekam, schmeckte nach Lebertran. Tausendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie essen müßte! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis der Großvater mit der Milch kommt."

"Ja, ich weiß schon, wie das ist", entgegnete Heidi recht verständnisvoll, denn es dachte an die Tage in Frankfurt, wo ihm alles im Halse steckenblieb und nicht hinunter wollte.

Als der Großvater mit seinen Schüsselchen herankam, faßte Klara ihres schnell, trank es in durstigen Zügen hinunter und war diesmal noch vor Heidi fertig.

"Darf ich noch ein wenig haben?" fragte sie, dem Großvater das Schüsselchen hinhaltend. Er nickte, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schüsselchen einen hohen Deckel mit, der war aber anders, als die Deckel gewöhnlich sind.

Der Großvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grünen Maiensäß hinüber gemacht, zu der Sennhütte, wo die hellgelbe Butter bereitet wird. Von dort hatte er einen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feste Schnitten Brot genommen und die süße Butter schön dick darüber gestrichen. Die sollten die Kinder nun haben.

Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder zu den schimmernden Sternen schauen wollte, ging es ihr wie Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu.

So schön verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine große Überraschung für die Kinder. Es kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf seiner Trage ein hohes Bett, beide mit einer weißen Decke belegt.



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Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Darin stand, daß diese Betten für Klara und Heidi seien und daß von nun an Heidi immer in einem richtigen Bett schlafen müsse. Im Winter solle das eine Bett ins Dörfli hinuntergeschafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfände, wenn sie wiederkäme.

Der Großvater war hineingegangen und hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinaufzuheben. Dann rückte er sie dicht aneinander, damit von beiden die Aussicht durch das Loch die gleiche bliebe.

Den Großvater mußte eine ganz besondere Teilnahme für seinen Pflegling gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an dem er nicht irgend etwas Neues zu seiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden Nachmittag weite Gänge in die Felsen hinauf, immer höher, und jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das schon von weitem duftete. Die Kräuter waren alle für das Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch gäbe. -

So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater morgens, wenn er sie hinuntertrug, um sie in ihren Sessel zu setzen, jedesmal gesagt: "Will das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu stehen?"

Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber sie hatte immer gleich gesagt: "Oh, es tut zu weh!" und hatte sich fest an ihn geklammert. Er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger probieren.

Einen so schönen Sommer hatte es seit Jahren nicht auf der Alp gegeben. Jeden Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin. Am Abend aber warf sie ihr Licht auf die Felsenhörner und das Schneefeld hinüber.

Davon erzählte Heidi seiner Freundin Klara immer wieder. Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte Heidi aufs neue von



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den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen erzählt. Dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, daß es plötzlich aufsprang und zum Großvater davonrannte, der im Schuppen auf seinem Schnitzstuhl saß.

"Großvater", rief es ihm schon von weitem zu, "kommst du morgen mit uns auf die Weide? Jetzt ist es so schön dort!"

"Es bleibt dabei", sagte der Großvater zustimmend; "aber dann muß mir das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß heute abend das Stehen noch einmal richtig probieren."

Frohlockend kam Heidi mit seiner Nachricht zu Klara. Es war so voller Jubel, daß es am Abend Peter beim Herunterkommen entgegenrief: "Peter, Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben."

Als Antwort brummte Peter wie ein gereizter Bär und schlug voller Wut nach dem unschuldigen Distelfink.



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Es geschieht, was keiner erwartet hat

In aller Frühe trat der Öhi am anderen Morgen aus der Hütte und blickte ringsum, wie der Tag werden wolle. Eine Weile stand der Alte und schaute andächtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu schimmern begannen, wie dann aus dem Tal leise die dunklen Schatten wichen und nun Höhen und Tiefen im Morgengold erglänzten. Die Sonne war gekommen!

Der Öhi holte den Rollstuhl aus dem Schuppen heraus, stellte ihn, zur Reise gerüstet, vor die Hütte und ging dann hinein, um die Kinder zu holen.

Gerade kam Peter herangestiegen. Er war auf dem höchsten Punkt des Zorns und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen hatte er nie mehr Heidi für sich gehabt, wie er's gewohnt war. Kam er am Morgen von unten herauf, so wurde schon immer das fremde Kind in seinem Stuhl herausgetragen, und Heidi gab sich nur mit ihm ab. Kam er am Abend von oben herunter, so stand der Rollstuhl unter den Tannen, und Heidi hatte kaum Zeit für ihn.

Noch nie war es den ganzen Sommer zur Weide heraufgekommen, heute nun wollte es endlich kommen, aber mitsamt dem Stuhl und der Fremden darin, und da würde es sich die ganze Zeit nur mit der abgeben. Das sah Peter voraus, und das hatte seinen inneren Grimm auf den Höhepunkt gebracht. Jetzt sah er den Stuhl, der da so stolz auf seinen Rollen stand, und schaute ihn wie einen Feind an, der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte. Peter schaute sich um - alles war still, kein Mensch war zu sehen. Wie ein Wilder stürzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn und stieß ihn mit sol-



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cher Kraft dem Berghang zu, daß der Stuhl förmlich davonflog und sofort verschwunden war.

Jetzt stürzte Peter die Alm hinauf, als hätte er selber Flügel bekommen, und er hielt nicht ein einziges Mal an, bis er oben zu einem großen Brombeerstrauch kam, hinter dem er verschwand, denn er wollte nicht, daß der Öhi ihn erblickte.

Peter konnte, halb verborgen, die Alm hinabschauen und, kam der Öhi zum Vorschein, sich schnell verstecken. So machte er es, und was sahen seine Augen? Weit unten schon stürzte sein Feind dahin, von immer größerer Gewalt getrieben. Jetzt überschlug er sich wieder und wieder und rollte seinem Verderben zu. Schon flogen da und dort die Stücke von ihm weg. Füße, Lehnen, Polsterfetzen, alles wirbelte hoch in die Luft. Peter empfand eine unbändige Freude an dem Anblick.

Jetzt mußte die Fremde abreisen, denn sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich zu bewegen. Heidi war wieder allein und



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kam mit ihm auf die Weide und war am Abend und Morgen für ihn da, wenn er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber Peter ahnte nicht, wie es ist, wenn man eine böse Tat begangen hat, und was dann danach folgt.

Heidi kam aus der Hütte gesprungen und rannte dem Schuppen zu. Hinter ihm her kam der Großvater mit Klara auf dem Arm. Heidi guckte hin und her, lief um die Ecke, lief wieder zurück, mit der größten Verwunderung auf dem Gesicht. Nun kam der Großvater heran.

"Was ist das? Hast du den Stuhl weggerollt, Heidi?" fragte er.

"Ich suche ihn ja überall, Großvater", sagte das Kind, immer noch nach allen Seiten mit den Augen herumsuchend. Der Wind war inzwischen stärker geworden. Gerade klapperte er an der Schuppentür herum und warf sie auf einmal krachend gegen die Wand zurück.

"Großvater, der Wind hat's gemacht", rief Heidi, und seine Augen blitzten bei der Entdeckung auf. "Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dörfli hinabgejagt hätte, dann bekämen wir ihn erst viel zu spät wieder, und wir könnten gar nicht gehen."

"Wenn er dort hinuntergerollt ist, so kommt er gar nicht mehr zurück, dann ist er in hundert Stücke zerbrochen", sagte der Großvater und schaute den Berg hinab. "Aber komisch ist's doch zugegangen", setzte er hinzu, indem er auf den Weg zurücksah, den der Stuhl erst um die Ecke der Hütte herum zu machen hatte.

"0 wie schade! Jetzt können wir gar nicht gehen und vielleicht nie mehr", jammerte Klara. "Nun muß ich sicher heimkehren, wenn ich keinen Stuhl mehr habe."

Aber Heidi schaute sehr vertrauensvoll zu seinem Großvater auf und sagte: "Gelt, Großvater, du kannst schon etwas erfinden, daß sie nicht auf einmal heim muß?"

"Jetzt gehen wir erst mal auf die Weide, wie wir es uns vorgenommen haben. Dann wollen wir sehen, was weiter kommt", sagte der Großvater. Die Kinder jubelten.



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Er ging nun wieder in die Hütte zurück, holte einige Tücher heraus, legte sie auf den sonnigen Platz an der Hütte und setzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und führte Schwänli und Bärli zum Stall hinaus.

"Warum der nur so lange nicht von unten heraufkommt", sagte der Öhi vor sich hin, denn Peters Morgen pfiff war ja noch gar nicht ertönt. Dann nahm der Großvater Klara auf den einen Arm, die Tücher auf den anderen. "So, nun vorwärts!" sagte er vorausgehend. "Die Geißen kommen mit uns."

Das war Heidi eben recht. Einen Arm um Schwänlis und einen um Bärlis Hals gelegt, wanderte Heidi hinter dem Großvater her. Oben auf dem Weideplatz angelangt, sahen sie mit einmal da und dort an den Abhängen die friedlich grasenden Geißen und mittendrin Peter.

"Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen austreiben, Schlafmütze! Was soll das?"rief ihm der Öhi zu.

Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgesprungen. "War noch niemand auf", gab er zurück.

"Hast du etwas von dem Stuhl gesehen?"fragte der Öhi.

"Von welchem Stuhl?"rief Peter störrisch zurück. Der Öhi sagte nichts mehr. Er breitete seine Tücher auf dem sonnigen Abhang aus, setzte Klara darauf und wollte wissen, ob's bequem sei.

"So bequem wie im Stuhl", sagte sie dankend, "und auf dem schönsten Platz bin ich hier. Da ist's so schön, Heidi, so schön!"

Der Großvater schickte sich zur Rückkehr an. Er sagte, sie sollten sieh's nun wohl sein lassen miteinander, und wenn die Zeit da sei, sollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack verpackt, drüben in den Schatten gelegt hatte. Dann sollte Peter ihnen Milch dazugeben, soviel sie trinken wollten, aber Heidi sollte gut aufpassen, daß er sie vom Schwänli nehme. Gegen Abend wollte der Großvater wiederkommen.

So waren schon einige Stunden vergangen. Plötzlich kam es Heidi in den Sinn, ob es nicht doch einmal an den Platz hinübergehen könnte, wo die vielen Blumen waren. Erst am



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Abend, wenn der Großvater wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu.

Ein wenig zaghaft fragte es: "Bist du auch nicht böse, Klara, wenn ich geschwind von dir fortlaufe und du allein sein mußt? Ich möchte so gern sehen, wie die Blumen sind; aber warte -"

Heidi war ein Gedanke gekommen. Es sprang zur Seite und riß ein paar schöne Büschel von den grünen Kräutern aus. Jetzt nahm es das Schneehöppli um den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und führte es Klara zu.

"So, jetzt brauchst du doch nicht allein zu sein", sagte Heidi, indem es das Schneehöppli auf seinen Platz neben Klara ein wenig hindrückte. Dann warf Heidi seine Blätter Klara in den Schoß.

Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blatt für Blatt dem Schneehöppli hinzuhalten, und das wurde so zutraulich, daß es sich dicht an seine neue Freundin schmiegte und ihr die Blätter langsam aus den Fingern fraß. Klara kam es köstlich vor, so ganz allein auf einem Berg zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Geißlein, das recht hilfsbedürftig zu ihr aufsah. Ein großer Wunsch stieg in ihr auf, auch einmal einem anderen helfen zu können und sich nicht nur immer helfen zu lassen.

Heidi war inzwischen bei den Blumen angekommen. Es stieß einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Gold bedeckt lag die ganze Halde da. Heidi stand und schaute und zog den süßen Duft in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem zu Klara zurück.

"Oh, du mußt auch kommen!" rief es ihr schon von weitem zu. "Sie sind so schön, und alles ist so schön, und am Abend ist es vielleicht schon nicht mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?"

Klara schüttelte den Kopf. "Nein, nein, was denkst du, Heidi, du bist ja viel kleiner als ich. Oh, wenn ich nur gehen könnte!"

Heidi schaute sich suchend um, es schien etwas Neues im Sinn zu haben. Dort oben, wo Peter vorher auf dem Boden gelegen



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hatte, saß er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit Stunden gesessen und immerzu herab gestarrt.

"Komm hier herunter, Peter!" rief Heidi sehr bestimmt.

"Komme nicht!" rief er zurück.

"Doch, du mußt. Komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir helfen. Komm schnell!"drängte Heidi.

"Komme nicht!" ertönte es wieder.

Jetzt sprang Heidi die kleine Strecke den Berg hinan. Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf: "Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich etwas machen, was du gewiß nicht gern hast. Das kannst du glauben!"

Diese Worte gaben Peter einen Stich, und eine große Angst überkam ihn. Er hatte etwas Böses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut. Nun aber redete Heidi, als ob es alles wüßte, und wenn es etwas wußte, dann sagte es alles seinem Großvater. Vor dem fürchtete Peter sich ja wie vor keinem andern. Er stand auf und kam Heidi entgegen.

"Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen", sagte er.

"Nein, nein, das tu' ich nun schon nicht", versicherte es. "Komm jetzt nur mit mir, es ist nichts zum Fürchten, was du tun mußt."

Bei Klara angelangt, faßten Heidi und Peter Klara fest unter den Arm und hoben sie auf. Das ging nun ziemlich gut, aber Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun festhalten und vorwärts bringen?

"Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, recht fest - so. Und Peter mußt du am Arm nehmen und ganz fest daraufdrücken, dann können wir dich tragen", sagte Heidi.

Aber Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte diesen wohl; doch Peter hielt ihn steif am Leib herunter wie einen langen Stecken.

"So macht man es nicht, Peter", sagte Heidi sehr bestimmt. "Du mußt mit dem Arm einen Ring machen. Du darfst nicht nachgeben, dann kommen wir schon vorwärts."



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Das wurde nun so gemacht. Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog aber einen nach dem anderen immer bald wieder zurück.

"Stampf einmal recht herunter", schlug Heidi vor, "dann tut es dir gewiß nachher weniger weh."

Klara gehorchte und wagte einen festen Schritt und dann einen weiteren mit dem zweiten Fuß. Doch sie schrie dabei ein wenig auf. Dann hob sie den einen wieder und setzte ihn sanfter hin.

"Oh, das hat schon viel weniger weh getan", sagte sie voller Freude.

"Mach's noch einmal!"drängte Heidi eifrig.

Klara tat es, und dann noch einmal, und plötzlich schrie sie auf: "Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem anderen."

Jetzt jauchzte Heidi noch viel mehr. "Oh! Kannst du bestimmt selbst Schritte machen? Kannst du jetzt gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme! Klara, jetzt kannst du gehen!" rief es ein ums andere Mal aus.

Klara hielt sich wohlauf beiden Seiten fest, aber mit jedem Schritt wurde sie ein wenig sicherer. Heidi kam vor Freude ganz außer sich.

"Nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wohin wir wollen!" rief es aus. "Und du, kannst gehen wie ich und mußt nie mehr im Stuhl gefahren werden und wirst gesund! Oh, das ist die größte Freude, die wir haben können!"

Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinüber. Dort sah man schon das Glitzern der Gold röschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Büschen der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige Boden so einladend aussah.

"Können wir hier nicht niedersitzen?"fragte Klara.

Das war natürlich Heidis Wunsch, und die Kinder setzten sich mitten in die Blumen hinein. Heidi meinte, so schön sei es hier oben noch nie gewesen. Aber dann kam ihm auf einmal



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wieder in den Sinn, daß Klara gesund geworden war! Das war zu allem Schönen ringsum noch die allergrößte Freude. Klara wurde ganz still vor Wonne und Entzücken, das große Glück hatte fast nicht Platz in ihrem Herzen.

Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfeld, denn er war fest eingeschlafen. So vergingen die Stunden. Die Sonne war längst über den Mittag hinaus, als einige Geißen ganz ernsthaft auf die Blumenhalde zugeschritten kamen. Es war nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie Abgesandte, voran der Distelfink. Die Geißen waren losgegangen, ihre Gesellschaft zu suchen, die sie so lange im Stich gelassen hatte.

Als alle drei nun wieder auf dem Weideplatz angekommen waren, holte Heidi schnell den vollen Speisesack herbei und wollte sein Versprechen einlösen. Die Drohung hatte sich nämlich auf den Inhalt des Sackes bezogen. Es hatte wohl am Morgen gemerkt, wie viele gute Sachen der Großvater da hineingepackt hatte, und hatte vorausgesehen, daß Peter davon ein guter Teil zufallen werde. -Heidi-holte Stück für Stück aus dem Sack heraus und machte drei Häufchen davon. Die wurden so hoch, daß es voller Befriedigung zu sich selbst sagte: "Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben."

Die Kinder ließen sieh's nach der großen Anstrengung schmecken. Es ging jedoch, wie Heidi vorausgesehen hatte. Als sie beide völlig satt waren, blieb noch so viel übrig, daß Peter noch einmal ein Häufchen, so groß wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er aß still und beharrlich alles auf, aber er vollbrachte sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung.

Die Kinder waren so spät zu ihrer Mahlzeit gekommen, daß der Großvater schon kurz danach die Alm hinaufstieg, um sie abzuholen. Heidi stürzte ihm entgegen. Es wollte ihm zuerst sagen, was sich ereignet hatte. Er beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er fröhlich lächelnd: "So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!"



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Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaßte sie mit dem linken Arm und hielt ihr seine Rechte als starke Stütze für ihre Hand hin, und Klara marschierte, mit der festen Hand im Rücken, noch viel sicherer und unerschrockener dahin, als sie es vorher getan hatte. Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater sah aus, als sei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er Klara auf seinen Arm und sagte: "Wir wollen's nicht übertreiben, es ist auch Zeit zur Heimkehr."



***
Als Peter spät am Abend mit seinen Geißen zum Dörfli herunterkam, standen viele Leute in einem Knäuel zusammen, und einer stieß den anderen weg, um besser sehen zu können, was mittendrin am Boden lag. Das mußte Peter auch sehen. Er drückte und drängte rechts und links und bohrte sich hinein. Da, jetzt sah er's!

Auf dem Gras lag das Mittelstück vom Rollstuhl, und nur noch ein Teil des Rückens hing daran.

"Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen", sagte der Bäcker, der neben Peter stand. "Wenigstens fünfhundert Franken war der wert, das wett' ich mit jedem. Es wundert mich nur, wie das geschehen ist."

"Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi selbst gesagt", meinte die Barbel.

"Es ist gut, daß es kein anderer war", sagte der Bäcker wieder; "dem ging's schön! Wenn das der Herr in Frankfurt hört, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich für mich bin froh, daß ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war. Der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen wurde."

Noch viele Meinungen wurden ausgesprochen, aber Peter hatte genug gehört. Er kroch sehr zahm und sachte aus dem Knäuel heraus und lief mit allen Kräften den Berg hinauf, als wäre einer hinter ihm her, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine furchtbare Angst eingejagt. Ganz verstört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar



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nichts, und wollte nicht einmal seine Kartoffeln essen. Schnell kroch er in sein Bett und stöhnte.

Als die Kinder abends von ihren Betten in den Sternenhimmel schauten, sagte Heidi: "Hast du nicht heute den ganzen Tag denken müssen, wie gut es doch ist, daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir auch noch so sehr um etwas bitten und er etwas viel Besseres weiß? Aber ich denke", fuhr Heidi fort, indem es sich aufsetzte, "heute müssen wir gewiß dem lieben Gott noch recht danken, daß du jetzt gehen kannst."

"Ja, gewiß, Heidi, du hast recht. Vor lauter Freude hätte ich es fast vergessen."

Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die Frau Großmama schreiben, ob sie nicht zur Alp kommen wolle, es wäre etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen anderen Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraschung bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so daß sie, allein auf Heidi gestützt, einen kleinen Gang machen könnte. Die Großmama aber sollte von allem keine Ahnung haben.

Nun wurde mit dem Großvater beraten, wie lange das noch dauern könnte. Da er meinte, kaum acht Tage, so wurde die Großmama im nächsten Brief dringend eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen. Von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet.

Die Tage, die nun folgten, waren die allerschönsten, die Klara auf der Alp verlebte. Jeden Morgen erwachte sie mit der lauten Freude in ihrem Herzen. Ich bin gesund! Ich muß nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie die anderen auch!

Dann folgte das Gehen, und jeden Tag ging es leichter und besser, und immer längere Gänge konnten gewagt werden. Die Bewegung brachte dann einen solchen Appetit mit sich, daß der Großvater seine Butterschnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen sah, wie sie verschwanden.



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Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen

Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft einen Brief geschrieben und mitgeteilt, daß sie komme. Diesen Brief brachte am anderen Tag Peter in der Frühe mit, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli standen beide draußen und schüttelten lustig ihre Köpfe, während die Kinder sie streichelten. Behaglich stand der Öhi dabei und schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine sauber glänzenden Geißen nieder.

Jetzt kam Peter heran. Als er die Gruppe sah, näherte er sich langsam, streckte den Brief dem Öhi entgegen, und sobald dieser ihn erfaßt hatte, sprang er scheu zurück, als ob ihn etwas erschreckt hätte. Nun machte er eine Wendung und lief davon, den Berg hinauf.

"Großvater", sagte Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut hatte, "warum tut Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn er eine Rute hinter sich spürt."

"Vielleicht merkt Peter auch eine Rute hinter sich, die er verdient", antwortete der Großvater.

Nur die erste Halde hinauf lief Peter so davon. Als man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich machte er einen Sprung und blickte so erschreckt hinter sich, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch, aus jeder Hecke glaubte Peter jetzt den Polizeidiener aus Frankfurt auf sich losstürzen zu sehen. Je länger aber diese gespannte Erwartung dauerte, desto schreckhafter wurde Peter zumute, er hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. —



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Heidi räumte indessen die Hütte auf, denn die Großmama sollte doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. So vergingen den Kindern die frühen Morgenstunden, und bald konnte man der Ankunft der Großmama entgegensehen. Dann kamen sie von unten herauf, geradeso, wie Heidi es erwartet hatte. Voran stieg der Führer, dann kam der Schimmel mit der Großmama darauf, und zuletzt ging der Träger mit dem hohen Reif. Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht, und die Großmama erblickte die Kinder.

"Was ist denn das? Was seh' ich, Klärchen? Du sitzt nicht in deinem Sessel! Wie ist das möglich?" rief sie erschrocken aus und stieg nun eilig vom Pferd herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war, schlug sie die Hände zusammen und rief in höchster Aufregung:



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"Klärchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja kugelrunde, rote Wangen!" Jetzt wollte die Großmama auf Klara losstürzen. Aber schnell war Heidi von der Bank geglitten. Klara stützte sich auf seine Schultern, und so gingen die Kinder und machten ganz gelassen eir m kleinen Spaziergang.

Aufrecht und sicher ging Klara neben Heidi her. Nun kamen sie wieder zurück, beide mit strahlenden Gesichtern. Die Großmama stürzte ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte sie ihr Klärchen, dann Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand die Großmutter gar keine Worte.

Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank stand und mit behaglichem Lächeln zu den dreien herüberschaute. Jetzt nahm die Großmama Klaras Arm in den ihren und wanderte mit ihr der Bank zu. Hier ließ sie Klara los und ergriff den Alten bei den Händen.

"Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es ist Ihr Werk! Es ist Ihre Pflege -"

"Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft", fiel der Öhi lächelnd ein.

"Ja, und Schwänlis gute Milch gewiß auch!" rief nun Klara. "Großmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geißenmilch trinken kann und wie gut sie ist!"

"Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen", sagte jetzt die Großmama lachend. "Nein, dich kennt man nicht mehr. Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle an meinen Sohn in Paris telegrafiert werden, er muß sofort kommen. Ich sage ihm nicht, warum. Das ist die größte Freude seines Lebens! Mein lieber Öhi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?"

"Die sind fort", antwortete er. "Aber wenn's der Frau Großmama so eilig ist, so lassen wir den Geißbub herunterkommen, der hat Zeit."

Der Öhi ging ein wenig zur Seite und pfiff so durchdringend zwischen seinen Fingern, daß es hoch oben von den Felsen zurückschallte. Es dauerte gar nicht lange, da kam Peter heruntergerannt.



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Den Pfiff kannte er gut. Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Alm-Öhi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die Großmama inzwischen geschrieben hatte. Der Öhi sagte ihm, er solle das Papier sofort ins Dörfli hinuntertragen und auf dem Postamt abgeben.

Endlich konnte man sich ruhig zusammen um den Tisch vor der Hütte setzen und der Großmama erzählen, wie alles zugegangen war. Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre schön ausgedachte Überraschung so gut gelungen war.



***
Herr Sesemann hatte mittlerweile in Paris seine Geschäfte beendet. Er hatte auch vor, eine Überraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an seine Mutter zu schreiben, setzte er sich auf die Bahn und fuhr nach Basel. Dort brach er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder auf und kam einige Stunden nach der Abfahrt seiner Mutter in Bad Ragaz an.

Die Nachricht, daß sie heute die Reise zur Alp unternommen habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und fuhr nach Mayenfeld hinüber. Als er hörte, daß er auch noch bis zum Dörfli hinauffahren könne, tat er dies. Der anschließende Fußweg die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß er auf halbem Weg auf die Wohnung des Geißenpeters stoßen müßte, denn er hatte oft die Beschreibung dieses Weges gehört.

Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen. Es war Peter mit seinem Telegramm in der Hand. Er lief geradeaus, steil herunter, nicht auf dem Fußweg, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Läufer aber nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann. Zögernd und scheu kam Peter näher.

"Na, Junge, frisch heran!" ermunterte ihn Herr Sesemann. "Sag mir, führt dieser Weg zu der Hütte, wo der alte Mann mit dem Kind Heidi wohnt, bei dem die Leute aus Frankfurt sind?"

Ein Ton des Schreckens war die Antwort, und so schnell schoß Peter davon, daß er kopfüber die steile Halde hinab-



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schoß und in Purzelbäumen fortrollte, weiter, immer weiter, ganz ähnlich wie der Rollstuhl, nur daß Peter glücklicherweise nicht in Stücke ging. Nur das Telegramm wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.

"Ein merkwürdig schüchterner Bergbewohner", sagte Herr Sesemann vor sich hin, denn er dachte, die Erscheinung eines Fremden habe diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn hervorgerufen.

Aber der Sturz war in diesem Augenblick nicht das Schrecklichste. Viel schrecklicher waren die Angst und das Entsetzen, die Peter erfüllten, weil er wußte, daß der Polizeidiener aus Frankfurt wirklich gekommen war. Denn er konnte nicht daran zweifeln, daß es der Fremde war, der nach den Frankfurtern beim Alm-Öhi gefragt hatte. Jetzt, am letzten Abhang oberhalb vom Dörfli, warf es Peter an einen Busch hin, da konnte er sich endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm los war.

"Gut so, wieder einer!" sagte eine Stimme dicht neben Peter. "Und wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er wie ein schlecht vernähter Kartoffelsack herunterkommt?"

Es war der Bäcker, der so spottete. Da er sich außerhalb seiner heißen Backstube ein wenig erfrischen wollte, hatte er zugesehen, wie Peter von oben gekommen war.

Peter schnellte auf seine Füße, von neuem Schrecken gepackt. Jetzt wußte der Bäcker auch schon, daß der Stuhl einen Stoß bekommen hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzusehen, lief Peter den Berg wieder hinauf. Am liebsten wäre er jetzt heimgegangen und in sein Bett gekrochen, da fühlte er sich am sichersten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der 0M hatte ihm eingeschärft, bald wiederzukommen, damit die Herde nicht zu lange allein sei.

Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hütte erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Weg war. Er stieg mit neuem Mut weiter, und endlich, nach

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" I langer, mühevoller Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhütte, und darüber wogten die dunklen Wipfel der alten Tannen.

Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte er sein Kind überraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft vor der Hütte entdeckt worden, und für den Vater wurde etwas vorbereitet, was er nicht ahnte.

Als er die letzten Schritte zur Hütte getan hatte, kamen ihm von der Hütte her zwei Gestalten entgegen: ein großes Mädchen mit heli blonden Haaren und einem rosigen Gesicht, das sich auf das kleinere Heidi stürzte. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die Herankommenden an. Auf einmal stürzten ihm die Tränen aus den Augen.

"Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?" rief ihm jetzt Klara mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. "Bin ich denn so verändert?"



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Nun stürzte Herr Sesemann auf sein Töchterchen zu und schloß es in seine Arme. "Ja, du bist verändert! Ist es möglich? Ist es Wirklichkeit?"

Jetzt war auch die Großmama herbeigekommen. "Nun, mein lieber Sohn, was sagst du dazu? Die Überraschung, die du uns antust, ist recht schön, aber die, die man dir bereitet hat, ist wohl noch schöner!"

Und die Mutter begrüßte nun mit großer Herzlichkeit ihren Sohn. "Aber jetzt, mein Lieber", sagte sie dann, "kommst du mit mir dort hinüber, unseren Öhi zu begrüßen, der ist unser größter Wohltäter."

"Gewiß, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, muß ich noch begrüßen", sagte Herr Sesemann und schüttelte Heidis Hand. "Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man braucht nicht zu fragen, kein Alpenröschen kann schöner blühen. Das ist mir eine große Freude!"

Die Großmama führte ihren Sohn zum Alm-Öhi hinüber. Während sich nun die beiden Männer sehr herzlich die Hände schüttelten und Herr Sesemann seinen tiefen Dank auszusprechen begann - und sein Erstaunen darüber, wie dieses Wunder hatte geschehen können -, wandte sich die Großmama ein wenig ab und ging zu der anderen Seite hinüber, denn das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie wollte einmal nach den alten Tannen schauen.

Da sah sie schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den Bäumen, da, wo die langen Äste noch einen freien Platz gelassen hatten, stand ein großer Busch der wundervollen dunkelblauen Enziane, so frisch und glänzend, als wären sie gerade da herausgewachsen. Die Großmama schlug die Hände vor Entzücken zusammen.

"Wie köstlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!" rief sie ein ums andere Mal aus. "Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das zur Freude bereitet? Es ist einfach wundervoll!"

"Nein, nein, gewiß nicht", sagte Heidi; "aber ich weiß schon, wer's gemacht hat."



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Jetzt hörte man ein leises Geräusch hinter den Tannen. Das kam vom Peter her, der inzwischen wieder oben angelangt war. Als er gesehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte stand, hatte er einen großen Bogen gemacht und wollte nun heimlich hinter den Tannen hinaufschleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er sollte doch eine kleine Belohnung haben.

"Komm, mein Junge, komm heraus, frisch und ohne Scheu!" rief die Großmama laut.

Starr vor Schreck stand Peter still. Er hatte nach allem Erlebten keine Widerstandskraft mehr, er fühlte nur noch: Jetzt ist's aus!

"Nur frisch heran", ermunterte die Großmama. "So, nun sag mir einmal, Junge, hast du das gemacht?"

Peter hob seine Augen nicht auf und sah auch nicht, wohin der Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte gesehen, daß der Öhi an der Ecke stand und dessen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren. Und neben dem Öhi stand der vermeintliche Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, stieß der Peter ein "Ja" hervor.

"Nun", sagte die Großmama, "was ist denn Schreckliches dabei?"

"Daß er - daß er - daß er auseinander ist und man ihn nicht mehr ganz machen kann", brachte Peter mühsam hervor. Die Großmama ging zur Hüttenecke hinüber.

"Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen Buben?"fragte sie teilnehmend.

"Gar nicht, gar nicht", versicherte der Öhi. "Der Bub ist nur der Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine wohlverdiente Strafe."

Das konnte die Großmama nun gar nicht glauben, denn sie meinte, so boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus,



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und er hätte doch keinen Grund gehabt, den Rollstuhl zu zerstören. Aber dem Öhi war das Geständnis nur die Bestätigung eines Verdachts gewesen, der in ihm gleich nach der Tat aufgestiegen war.

"Nein, mein lieber Öhi, den armen Buben wollen wir nicht weiter strafen. Man muß gerecht sein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, und er sitzt Tag für Tag allein da und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muß man gerecht sein. Der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm."

Damit ging die Großmama zum Peter zurück, der noch immer bebte und schlotterte. Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich: "So, nun komm her, mein Junge. Ich habe dir etwas zu sagen. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, das war etwas Böses, das hast du wohl gewußt. Und daß du eine Strafe verdienst, das wußtest du auch. Aber siehst du: Wer etwas Böses tut und denkt, der verrechnet sich immer. Der liebe Gott sieht und hört ja doch alles, und sobald er merkt, daß ein Mensch seine bösen Taten verheimlichen will, so weckt er schnell in dem Menschen das Wächterchen auf. Das ruft ihm immer quälend zu: ,Jetzt kommt alles 'raus! Jetzt holen sie dich zur Strafe!' So muß er immer in Angst und Schrecken leben und hat keine Freude mehr, gar keine. Hast du nicht auch so etwas erfahren, Peter, eben jetzt?"

Peter nickte sehr zerknirscht, denn gerade so war es ihm ergangen.

"Und noch auf eine andere Art hast du dich verrechnet", fuhr die Großmama fort. "Sieh, wie das Böse, das du tatest, zum Besten für die ausfiel, der du es zufügen wolltest! Weil Klara keinen Rollstuhl mehr hatte, so strengte sie sich ganz besonders an, zu gehen. So lernte sie's und lernt es nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie nachher jeden Tag zur Weide gehen, viel öfter also, als sie in ihrem Stuhl hinaufgekommen wäre.



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Siehst du wohl, Peter? So kann der liebe Gott das Böse, was einer machen wollte, schnell in seine Hand nehmen und für den andern etwas Gutes daraus machen. So, nun ist's gut, die Sache ist erledigt", schloß die Großmama. "Nun sollst du aber auch ein Andenken an die Frankfurter haben, das dich freut. So sag mir nur, mein Junge, was möchtest du am liebsten haben?"

Jetzt hob Peter seinen Kopf auf und starrte die Großmama mit erstaunten Augen an. Er empfand eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn fast zusammengedrückt hatte. Doch nun hatte er auch begriffen, daß es besser ist, wenn man gleich ein Unrecht eingesteht, und auf einmal sagte er: "Und das Papier hab' ich auch verloren."

Die Großmama mußte sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: "So, so, es ist recht, daß du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist, dann kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hättest du gern?"

Nun konnte sich Peter wünschen, was er nur wollte. Es wurde ihm fast schwindelig. Der große Jahrmarkt von Mayenfeld mit all den schönen Sachen, Sachen, die er oft stundenlang angestaunt und für immer unerreichbar gehalten hatte, flimmerte vor seinen Augen. Peters Besitztum hatte noch nie einen Fünfer überstiegen, und alle die lockenden Gegenstände kosteten immer das Doppelte. Da waren die schönen roten Pfeifen, die er so gut für seine Geißen brauchen konnte. Da waren die runden Messer, Krötenstecher genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschäfte machte.

Tiefsinnig stand Peter da. Er überlegte, welches von beiden das Beste wäre, und konnte sich nicht entscheiden. Aber dann kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sieh's noch bis zum nächsten Jahrmarkt überlegen.

"Einen Zehner", antwortete Peter entschlossen.

Die Großmama lachte ein wenig. "Das ist nicht übertrieben. So komm her!" Sie zog ihren Beutel und nahm einen großen Taler heraus. Darauf legte sie noch zwei Zehnerstückchen.



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"So, wir wollen eine gerade Rechnung machen", fuhr sie fort. "Ich will es dir erklären. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, wie es Wochen im Jahr sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und verbrauchen, das ganze Jahr hindurch."

"Mein Leben lang?"fragte Peter harmlos. Jetzt mußte die Großmama so laut lachen, daß die Herren ihr Gespräch unterbrachen, um zu hören, was da vorgehe.

"Das sollst du haben, Junge; das gibt einen Satz in meinem Testament - hörst du, mein Sohn? —, und nachher geht es in das deine über. Also: Dem Geißenpeter einen Zehner wöchentlich, solange er lebt!"

Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch herüber. Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es auch wirklich wahr sei. Dann bedankte er sich und rannte in ganz ungewöhnlichen Sprüngen davon. Diesmal blieb er aber doch auf den Füßen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schreck, sondern eine übergroße Freude davon.

Als später die Gesellschaft vor der Almhütte das fröhliche Mittagsmahl beendet hatte und noch im Gespräch zusammensaß, nahm Klara ihren Vater bei der Hand und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an ihr gekannt hatte:

"0 Papa, wenn du nur wüßtest, was der Großvater alles für mich getan hat! Ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich, wenn ich nur dem lieben Großvater auch etwas schenken könnte, was ihm so recht Freude machen würde."

"Das ist auch mein größter Wunsch, liebes Kind", sagte der Vater. "Ich denke schon immer darüber nach, wie wir unserem Wohltäter unseren Dank auch nur einigermaßen zeigen könnten."

Herr Sesemann erhob sich und ging zum Öhi hinüber, der neben der Großmama saß und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er stand jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte freundschaftlich:



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"Mein lieber Freund, lassen Sie uns ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was half mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das ich mit keinem Reichtum gesund und glücklich machen konnte! Nächst unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir wie ihm damit ein neues Leben geschenkt. Nun sagen Sie, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen. Vergelten kann ich nie, was Sie an uns getan haben, aber was ich kann, das stelle ich zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?"

Der •, hatte still zugehört und blickte den glücklichen Vater mit vergnügtem Lächeln an.



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"Herr Sesemann glaubt mir sicher, daß ich meinen Teil an der großen Freude über die Genesung auf unserer Alm auch habe. Meine Mühe ist mir dadurch wohl vergolten", sagte der Öhi in seiner festen Art. "Für das gütige Anerbieten danke ich Herrn Sesemann, ich habe nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich genug. Aber einen Wunsch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden könnte, so hätte ich keine Sorgen mehr."

"Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!" drängte Herr Sesemann.

"Ich bin alt", fuhr der Öhi fort, "und wenn ich gehe, kann ich dem Kind nichts hinterlassen, und Verwandte hat es keine mehr. Nur noch eine einzige Person, und die würde ihren Vorteil aus ihm ziehen. Wenn mir der Herr Sesemann die Zusicherung geben wollte, daß das Heidi nie in seinem Leben hinausmuß, um sein Brot in der Fremde zu suchen, dann hätte er mir reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und sein Kind tun konnte."

"Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals die Rede sein!" rief Herr Sesemann nun aus. "Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie meine Mutter oder meine Tochter. Das Kind Heidi werden sie ja in ihrem Leben nicht anderen Leuten überlassen! Dafür will ich sorgen, auch über meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses Kind ist nicht für ein Leben in der Fremde geschaffen, das haben wir gemerkt. Aber es hat sich Freunde gemacht. Da ist mein Freund, der Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen und Sie um Ihren Rat bitten wird. Er will sich in dieser Gegend niederlassen, denn in Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl gefühlt wie sonst nirgends mehr. So sehen Sie, Heidi wird fortan zwei Beschützer in seiner Nähe haben. Mögen ihm beide miteinander noch recht lange erhalten bleiben."

"Das gebe der liebe Gott!" fiel hier die Großmama ein, und den Wunsch ihres Sohnes bestätigend, schüttelte sie dem Öhi mit großer Herzlichkeit die Hand. Dann faßte sie auf einmal



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Heidi um den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran.

"Und du, meine liebe Heidi, dich muß man doch auch noch fragen. Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfüllt hättest?"

"Ja, freilich, den habe ich schon", antwortete Heidi und blickte sehr erfreut zu der Großmama auf. "Ich hätte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und der dicken Decke. Dann braucht die Großmutter nicht mehr mit dem Kopf bergab zu liegen, denn sie kann fast nicht mehr atmen. Unter der Decke hätte sie es warm genug und müßte nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie so furchtbar friert."

"Ach, mein liebes Heidi, was sagst du mir da!" rief die Großmama erregt aus. "Das ist gut, daß du mich daran erinnerst. In der Freude vergißt man leicht, woran man zu allererst hätte denken sollen. Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt telegrafiert. Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken, in zwei Tagen kann es hier sein. Darin wird die Großmutter gewiß gut schlafen!"

Heidi hüpfte fröhlich um die -Großmama herum. Aber auf einmal stand es still und sagte schnell: "Nun muß ich gewiß geschwind zur Großmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so lange nicht komme."

"Nein, nein, Heidi, was denkst du!" ermahnte der Großvater. "Wenn man Besuch hat, läuft man nicht auf und davon."

"Mein lieber Öhi, das Kind hat nicht so unrecht", sagte darauf die Großmama. "Die arme Großmutter ist auch seit langem um meinetwillen viel zu kurz gekommen. Nun wollen wir gleich alle zu ihr gehen, und ich denke, ich warte dort auf mein Pferd. Dann setzen wir unseren Weg weiter fort, und unten im Dörfli wird sogleich das Telegramm aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?"

Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine Reise durch die Schweiz zu machen. Er wollte aber erst sehen, ob sein Klärchen imstande sei, eine kurze Strecke



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mitzureisen. Nun wollte er gleich diese schönen Spätsommertage dazu benutzen. Er gedachte diese Nacht im Dörfli zu verbringen und am folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen. Mit ihr wollte er dann zur Großmama nach Bad Ragaz hinunter und von da weiterreisen.

Klara war ein wenig betroffen über die Aussicht einer so plötzlichen Abreise von der Alp. Daneben war aber soviel Freude, und außerdem war gar keine Zeit, sich dem Traurigen hinzugeben. Schon war die Großmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfaßt, um den Zug anzuführen. Jetzt drehte sie sich plötzlich um.

"Aber was in aller Welt macht man nun mit Klärchen?" rief sie erschrocken aus. Es war ihr eingefallen, daß der Gang für sie viel zu weit sein würde. Doch schon hatte der Öhi sein Pflege töchterchen in der gewohnten Weise auf den Arm genommen und folgte der Großmama mit festem Schritt nach. Zuletzt kam Herr Sesemann, so ging der Zug weiter den Berg hinunter.

Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu hängen. Sie sah die Gesellschaft kommen und stürzte in die Stube hinein.

"Jetzt grad' geht alles fort, Mutter", berichtete sie. "Es ist ein langer Zug, der Öhi begleitet sie, er trägt die Kranke."

"Ach, muß es denn wirklich sein?" seufzte die Großmutter. "So nehmen sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir noch die Hand geben dürfte! Wenn ich es noch einmal hören könnte."

Jetzt wurde stürmisch die Tür aufgemacht, und Heidi war in wenigen Sprüngen in der Ecke bei der Großmutter und umklammerte sie.

"Großmutter! Großmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei Kissen und auch die dicke Decke! In zwei Tagen ist es da, hat die Großmama gesagt."

Heidi hatte seinen Bericht gar nicht schnell genug herausbringen können, denn es konnte die große Freude der Großmutter fast nicht abwarten. Diese lächelte, aber ein wenig traurig



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sagte sie: "Ach, was muß das für eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen, daß sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang überleben."

"Was, was? Wer sagt denn der Großmutter so etwas?"fragte hier eine freundliche Stimme. Die Hand der Alten wurde gefaßt und herzlich gedrückt, denn die Großmama war hinzugetreten und hatte alles gehört. "Nein, nein, davon ist keine Rede! Heidi bleibt bei der Großmutter und macht ihr Freude. Wir wollen das Kind auch wiedersehen, aber wir kommen dann zu ihm. Jedes Jahr werden wir zur Alm hinaufkommen."

Jetzt kam ein echter Freuden schein auf das Gesicht der Großmutter, und mit wortlosem Dank drückte sie die Hand der guten Frau Sesemann.

"Gelt, Großmutter", sagte Heidi, sich an sie sehmiegend, "jetzt ist es so gekommen, wie ich es dir zuletzt vorgelesen habe? Gelt, das Bett aus Frankfurt ist gewiß heilsam?"

"Ach ja, Heidi, und noch so vieles, vieles Gute, was der liebe Gott an mir tut!" sagte die Großmutter voll tiefer Rührung. "Wie ist es nur möglich, daß es so gute Menschen gibt, die sich so um eine arme Alte kümmern!" —---- — —----

"Meine gute Großmutter", fiel hier Frau Sesemann ein, "vor unserem Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig und haben wir es alle gleich nötig, daß der uns nicht vergißt. Und nun nehmen wir Abschied, aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nächstes Jahr zurück zur Alm kommen, suchen wir auch die Großmutter wieder auf. Die wird nie mehr vergessen!"

Dann zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talwärts, während der Öhi Klara noch einmal nach Hause trug und Heidi neben ihnen herhüpfte. Es war so froh über die Aussicht der Großmutter, daß es bei jedem Schritt einen Sprung machen mußte.




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Am Morgen darauf aber gab es heiße Tränen bei der scheidenden Klara, als sie von der schönen Alm fortmußte, wo es ihr so gut gegangen war. Aber Heidi tröstete sie:


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"Es ist ja bald wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und dann ist's noch viel schöner. Dann kannst du von Anfang an gehen, und wir können alle Tage mit den Geißen auf die Weide und zu den Blumen hinauf."

Herr Sesemann war wie vereinbart gekommen, sein Töchterchen abzuholen. Er stand jetzt drüben beim Großvater, die Männer hatten noch allerlei zu besprechen. Klara wischte nun ihre Tränen ab, Heidis Worte hatten sie ein wenig getröstet.

Herr Sesemann winkte den Kindern, denn er wollte abreisen. Diesmal war das weiße Pferd der Großmama für Klara gekommen, und jetzt konnte sie herunterreiten und brauchte keinen Tragsessel mehr. Heidi stellte sich auf den äußeren Rand des Abhangs und winkte Klara nach, bis Roß und Reiterin verschwunden waren.




***
Das Bett ist angekommen, und die Großmutter schläft jetzt jede Nacht so gut, daß sie dadurch gewiß wieder zu Kräften kommt.

Den harten Winter auf der Alp hatte die Großmama auch nicht vergessen. Sie hatte einen großen Warenballen zur Geißenpeter-Hütte gesandt. Darin war so viel warmes Zeug verpackt, daß die Großmutter sich um und um damit einhüllen kann und gewiß nie mehr zitternd vor Kälte in ihrer Ecke sitzen muß.

Im Dörfli ist ein großer Bau im Gange. Der Doktor ist angelangt und hat zunächst sein altes Quartier bezogen. Auf den Rat seines Freundes hin hat der Doktor das alte Gebäude angekauft, das der Öhi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte. Es war ja schon einmal ein großer Herrensitz gewesen, was man immer noch an der hohen Stube mit dem schönen Ofen und dem kunstreichen Getäfel sehen konnte. Diesen Teil des Hauses läßt der Doktor als seine Wohnung ausbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier für den Öhi und das Heidi hergestellt, denn der Doktor kennt den Alten als einen unabhängigen Mann, der seine eigene Behausung haben muß. Ganz hinten



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wird ein gemauerter, warmer Geißenstall eingerichtet, da werden Schwänli und Bärli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage zubringen.

Der Doktor und der Alm-Öhi werden täglich bessere Freunde, und wenn sie zusammen auf dem Gemäuer herumsteigen, um den Fortgang des Baues zu besichtigen, kommen ihre Gedanken meistens auf Heidi. Beiden ist die Hauptfreude an dem Haus, daß sie mit ihrem fröhlichen Kind hier einziehen werden.

"Mein lieber Freund", sagte kürzlich der Doktor, als er mit dem Öhi oben auf der Mauer stand, "Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kind mit Ihnen, als wäre ich der nächste nach Ihnen, zu dem das Kind gehört. Ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, daß es mich in meinen alten



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Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunsch ist. Heidi soll in alle Kinderrechte bei mir eintreten. So können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen müssen, Sie und ich."

Der Öhi drückte dem Doktor lange die Hand; er sagte kein Wort, aber sein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Rührung und große Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten.




***
Inzwischen saßen Heidi und Peter bei der Großmutter. Heidi hatte so viel mit Erzählen zu tun und Peter mit Zuhören, daß sie alle beide vor Eifer kaum zu Atem kommen konnten und immer näher auf die glückliche Großmutter eindrangen.

Wieviel war ihr auch zu berichten von alledem, was sich den ganzen Sommer durch ereignet hatte, denn man war ja so wenig während dieser Zeit zusammengekommen.

Und von den dreien sah immer eins glücklicher als das andere aus über das neue Zusammensein und über all die wunderbaren Ereignisse. Doch jetzt war das Gesicht der Mutter Brigitte noch fast am glücklichsten anzusehen. Mit Heidis Hilfe war nun zum erstenmal klar und verständlich die Geschichte des unaufhörlichen Zehners herausgekommen. Zuletzt aber sagte die Großmutter:

"Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es ist mir, als könnte ich nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel für alles Dank sagen, was er an uns getan hat."